Santo Domingo de la Calzada – Tosantos

Tag 13, 20.Juni 2023

Was habe ich letzte Nacht gefroren. Dieser doofe Baumwoll-Mumienschlafsack wärmt überhaupt nicht, ist völlig eng und stinkt nach Chemie. Es hätte mir klar sein sollen, was ‚Mumienschlafsack‘ bedeutet. Meine Beine haben sich angefühlt, als wären sie zusammengeschnürt. Und dass mir, wo ich doch nachts im Bett immer so rum wühle. Ich hab den Schlafsack irgendwann einfach über mich drüber gelegt, zumindest hatte ich somit eine doppellagige Decke. Aber halt recht schmal, so dass eine Seite von mir immer gefroren hat.

Ich stehe auf, als es schon langsam hell ist und einer der hundert Hähne kräht.
Die Putzfrau trägt ein Radio mit sich am Leib, und als ich runter in die Halle komme, läuft Edward Simonis Panflöten Tränendrücker „Einsamer Hirte“ auf voller Lautstärke. Julia sitzt auf einer Couch vor dem Fahrstuhl und schreibt gerade was, als die exzentrische Putzfrau sie da herunter scheucht, weil sie in den Fahrstuhl muss mit all ihren Containern. In dem Moment fängt „Busindre Reel“ an, ein nicht wenig nerviges, wenn auch tolles Musikstück mit schottischen Pfeifen. Als sie kurz im Fahrstuhl verschwindet, ist es herrlich ruhig. Doch dann nähert sie sich wieder, und schon bald hallt der elektrische Dudelsack von Hevia im ganzen Korridor, und man versteht sein eigenes Wort nicht. Das ganze hat eine gewisse Komik, und Justin, ein junger Australier, der seinen Weg viel mit Roly zusammen geht, findet das schottische Lied irgendwann so gut, daß er sich den Titel aufschreibt. Sein Glück, daß ich dieses wenig bekannte Musikstück kenne.

Als ich die Herberge verlasse, regnet es schon wieder, wenn auch nicht besonders stark. Trotzdem habe ich keine Lust nass zu werden, und außerdem möchte ich Kaffee. Flo kommt auch gerade runter, und so trinken wir gemeinsam einen Kaffee in einer Bar um die Ecke, bevor wir uns auf den Weg machen. Flo geht mir am Anfang ein bisschen zu schnell, also bleibe ich zurück und genieße die Einsamkeit beim Gehen.

Dicht vor mir grummelt es, und dunkle Wolken säumen den Himmel. Ich kriege Angst, was wenn das Gewitter jetzt zu mir kommt? Hier sind nichts außer Felder und ein paar Bäume, also keine sonderlich gute Ausgangslage. Am Rand eines Feldes steht ein parkender Traktor, und ich überlege, ob ich da Unterschlupf suchen soll, falls die Tür auf ist. Aber ich gehe daran vorbei, denn ich befürchte, daß ein Alarm losgeht, sobald ich den Griff betätige. Und ich bete zu Gott, dass er sich erbarmt und das Gewitter weg schickt. Er hört mich, in der Ferne vor mir beleuchtet die Sonne schon bald die Hügel.

Ich komme durch viele kleine Dörfer, von denen ich meinen möchte, daß sie nur von Schwalben und Spatzen bewohnt sind.
Einmal verlaufe ich mich, weil ich während des Laufens einen Facebook Post schreibe und den gelben Pfeil übersehe. Dadurch verpasse ich das einzige Dorf mit einem Café, wo ich eventuell noch mal eingekehrt wäre. Die nächsten kleinen Orte, durch die ich komme, sind zwar idyllisch, aber es gibt keinen Supermarkt, kein Café, nur einen Warenautomaten. Leider habe ich kein Kleingeld.
An einem Brunnen fülle ich meine Wasserflasche wieder auf, werfe eine Mikropur Tablette hinein, und weiter geht’s. Landschaftlich bin ich umgeben von Hügeln mit überwiegend Korn- und Weizenfeldern. Manchmal kommt die Sonne raus, aber meistens ist es bewölkt, und immer wieder mal droht es zu regnen. Und dann geht es Kilometer weit auf einem Weg entlang einer Hauptverkehrsstraße bis nach Belorado.

Unmittelbar hinter dem Ortseingang entdecke ich eine Herberge mit einem gemütlichen Gartencafé. Ich habe Hunger und bestelle mir eine Pizza mit Salami und Peperoni, ein Bier und anschließend noch eine Cola.
Es ist gemütlich, ich sitze unter einem Baum der mir Schatten spendet, und hier fahren keine Autos. Ich bleibe eine ganze Weile hier und nutze die Zeit den Saum meines Mumien Schlafsacks auf zu schneiden, damit daraus mehr oder weniger eine Decke wird. Ich ärgere mich immer noch über den Kauf.

Da kommt Angela von letzter Nacht und leistet mir Gesellschaft. Sie bestellt ein Pilgermenü, und ich bin ein wenig neidisch, denn es sieht so lecker frisch aus, wie sie ihren knackigen Salat isst. Nächstes Mal möchte ich auch wieder ein Pilgermenü!
Angela bleibt heute Nacht hier. Fast wäre ich auch hier geblieben, dann hätte ich den Rest des Tages mit Angela in dieser schönen Herberge verbringen können. Hier gibt es sogar einen Swimming Pool.

Aber ich bin dann doch froh, als ich später in Tosantos ankomme, dem nächsten Dorf hinter Belorado.
Die Herberge dich ansteuerte liegt etwas außerhalb des Dorfes, aber sie klingt laut Pilger-App ganz gut und soll sogar eine Bar haben.
Ich bin fast da, als ich von links sanfte Gitarrenklänge vernehme. Justin, Roly’s Australischer Freund sitzt da im Garten vor einem Haus auf der Bank und spielt vor sich hin. Wir grüßen uns beiläufig, und ich rufe ihm zu, daß ich zur Herberge Los Arancones gehe. Er winkt direkt ab und sagt, daß er da auch hin wollte, sie aber heute geschlossen ist. Das hier sei die einzig geöffnete Herberge im Ort.
Echt jetzt? Das sieht hier aber nicht besonders einladend aus. Ich nähere mich dem Haus zögernd, denke dann aber, daß es ja nur für eine Nacht ist und gehe hinein.

In einer kleinen alten Stube mit alten Möbeln sitzen auf einer alten Couch um einen alten Tisch herum zwei alte Männer. Am liebsten möchte ich raus rennen, aber das wäre jetzt zu peinlich. Wo sollte ich auch hin? Solange die Wettervorhersage immer nur Blitz und Donner anzeigt, kann und will ich nicht zelten.
Einer der Männer spricht Englisch, der andere sagt nichts. Der Englisch sprechende erklärt mir, daß die Herberge kostenlos ist, man aber was spenden kann, oder man hilft das Abendbrot zuzubereiten. Und nach dem Abendbrot geht man zusammen in die Kirche. Ich sage, ich habe schon gegessen und drücke dem Englisch sprechenden Herbergsvater zehn Euro in die Hand. Viel zu viel, wie ich kurz darauf denke, denn es gibt weder Internet noch Bettlaken noch Kissen noch Decken. Einfach nur eine Matratze auf dem Boden.

Ich gehe duschen und verarzte meine Füße. Trotz jeglicher Gewichtsreduzierung und der Sandalen tun sie am Ende des Tages doch wieder höllisch weh. Ich glaube, egal was ich an den Füßen anziehe, es wird immer weh tun nach einer so langen Strecke. 
Einer meiner Zimmergenossen ist ein Franzose, den ich sehr schlecht verstehen kann. Sein Name ist Louis. Louis quatscht mich voll, doch ist es mühselig ihm zu folgen und eine Konversation zu halten. Ich möchte einfach nur runter in den Garten, aber irgendwie lässt er mich nicht. Ich kann mich dann schließlich losreißen, und drei Minuten später ist auch er unten.

Im Garten ist es dann doch sehr schön. Es gibt eine Wiese, Wäscheständer, Tische, Bänke, und die beiden Herbergsväter und eine Katze sitzen vor der Tür. Justin spielt immer noch leise die Gitarre, eine amerikanische Frau namens Gina mit ihrer Tochter Emma sitzen an einem Tisch unter einem Baum und der Franzose Louis etwas verloren auf der Mauer. Er wünscht sich wahrscheinlich, daß ich ihn an meinen Tisch bitte, weil er manchmal so rüber guckt. 

Später liege ich oben auf meiner Matratze und relaxe, als ich höre wie die anderen unten in der Küche beginnen zu kochen. Aber ich habe keine Lust, bin zu erschöpft, deshalb bleibe ich liegen. Obwohl ich schon gerne was richtiges zu essen hätte, aber wenn ich nicht mithelfe, dann kann ich auch nicht essen.
Meine Fußsohlen tun so unfassbar weh, ich kann kaum auftreten. Einer der Männer bringt mir Salbe, Tabletten und ein Schraubglas, worüber ich meine Füße abrollen soll, als Massage sozusagen. Er ist wirklich sehr fürsorglich, und jetzt schäme ich mich für meine Voreingenommenheit. Schließlich fragt er mich dann erneut, ob ich nicht doch runterkommen und etwas essen möchte. Aber jetzt traue ich mich nicht mehr, weil ich ja nicht mit geholfen habe bei den Vorbereitungen und lehne ab. Stattdessen kaue ich auf dem Brot, das ich noch von Angela von ihrem Pilgermenü übrig habe. Sie konnte es nicht essen wegen ihrer Gluten Intoleranz.

Als ich annehme, daß meine Mitbewohner mit dem Essen fertig sind, gehe ich runter, um mich nicht komplett auszuschließen.
In der Küche sitzen alle noch am Tisch, auch die beiden Männer. Ein Platz ist frei mit einem unbenutzten Teller, der war wohl für mich gedacht. Ich fühle mich plötzlich schrecklich, und mir wird klar, die beiden Männer sehen uns Pilger als ihre Familie, weil sie vielleicht sonst nichts haben außer der Katze. Sie haben es sich zur Aufgabe gemacht jeden Tag neue Pilger aufzunehmen ohne jeglichen Gedanken an Profit, sondern aus reiner Nächstenliebe und Gastfreundschaft. Und ich werde das Bild im Kopf nicht los, wie die beiden vor dem Haus saßen, als wir anderen im Garten waren. Wie zwei Hirten, die ihre Schäfchen hüten und sich erfreuen, daß sie da sind. Ich vermute mittlerweile, daß sie Brüder sind. Ihre Namen sind übrigens José Louis und Txema. Letztere ist der Englisch sprechende.
Wie froh ich jetzt bin, daß ich mit am Tisch sitze, es fühlt sich an wie in einer großen Familie. Bestimmt habe ich vorhin beim Essen ein paar interessante Konversationen verpasst.
Wieder bietet Txema mir was von dem Essen an, und nach leichtem Zögern sage ich dann, daß ich zumindest mal probieren würde, da es so lecker aussieht. Daraufhin bekomme ich eine ganze Schöpfkelle von seiner Paella. Ehrlich gesagt, habe ich das insgeheim gehofft, denn ich hatte mittlerweile wirklich Hunger. 

Und dann heißt es, wir gehen jetzt in die Kirche. Wo ist denn hier bitte eine Kirche, frage ich mich, und muß ich mich jetzt wirklich bewegen, ich kann doch kaum einen Fuß vor den anderen setzen?
Schließlich führt Txema uns die Treppe rauf, an unserem Schlafsaal vorbei auf den Dachboden. In der Wand ist eine Luke in Kirchenglas eingefasst, da sollen wir jetzt durch steigen. 

Ich komme aus dem Staunen nicht heraus. Die beiden Brüder – ich nenne sie jetzt mal so, haben aus dem Dachboden eine Art Messeraum gebaut, so richtig mit Schrein und Gebetsbüchern, Kerzen, Kreuzen und alles was dazu gehört. An der Wand ist eine Sitzbank, auf der wir alle Platz finden, José-Louis sitzt auf einem Stuhl daneben, und Txema bereitet die Messe vor.


Es duftet nach frischen Blumen, und es ist völlig ruhig. Keiner wagt zu sprechen, oder vielleicht ist jeder einfach nur völlig emotional und überwältigt, denn das hier hat bestimmt keiner von uns erwartet. 
José-Louis beginnt leise zu singen, während Txema selbstgedruckte Gesangshefte an uns verteilt. Wir stimmen alle mit ein und singen vier Mal hintereinander die gleiche Zeile.

Bless the Lord, my soul, and bless God’s holy name. Bless the Lord, my soul, who leads me into life.

Dann bekommen wir jeder einen Zettel mit einem Text in unserer jeweiligen Sprache, von dem wir nacheinander vorlesen sollen. Ich lese folgenden Text:

Die Bruderliebe soll bleiben. Vergesst die Gastfreundschaft nicht: Denn durch sie haben einige, ohne es zu ahnen, Engel beherbergt.
Denkt an die Gefangenen, als wäret ihr mitgefangen: denkt an die Misshandelten, denn auch ihr lebt noch in eurem irdischen Leib

Hebräer 13, 1-3

Jetzt glaube ich erst recht, daß Txema und José-Louis Brüder sind!

Nachdem wir alle unseren Teil gelesen haben, halten wir eine Weile inne und beten dann zusammen.

Zuletzt verteilt José-Louis Briefe von ehemaligen Pilgern, in denen sie ihr Leid schildern. Jeder von uns bekommt einen individuellen Brief zum Vorlesen, wieder in seiner jeweiligen Sprache. 
Louis beginnt als erstes seinen Brief vorzulesen. Keiner von uns versteht Französisch, aber wir merken an Louis‘ mehrmaligem Innehalten und Schlucken, daß ihm der Inhalt nahegeht. 
Der junge Justin ist als nächster dran und liest einen Brief von einer Frau, die ihr Kind verloren hat und sich daraufhin auf den Jakobsweg begeben hat. Als Justin ihr Leidklagen vorliest, fängt Gina links von mir an zu weinen. Sicher ist das das Schlimmste, was einer Mutter widerfahren kann, und der Schmerz des Verlustes für Gina, mit ihrer Tochter Emma neben sich sitzend, bestimmt gut nachvollziehbar.
Der Brief den ich vorlese handelt von jemandem, der oder die viel Gewalt im Leben erfahren hat. Schlimm, natürlich, aber er berührt mich nicht so sehr, weil ich keinen Bezug zu solch einer Erfahrung habe.
Gina kann ihren Brief von einer krebskranken Frau nur unter ständigem Schluchzen vorlesen, und nachdem Emma einen ähnlichen Brief liest, schluchzen wir am Ende alle. Da liegt auf einmal so viel Leid in der Luft. Wenn jeden Tag aufs Neue in diesem Raum so viel Energie freigesetzt wird, wo geht das alles hin? 
Ich glaube, ich bin eine von wenigen, die nicht den Jakobsweg gehen, weil ihnen was Schlimmes passiert ist, oder mit dem Hintergedanken etwas aufarbeiten zu wollen. Mir geht es in erster Linie nach wie vor um das Fernwandern und das damit verbundene Abenteuer. 
Und jetzt sitze ich hier, und mir laufen auch die Tränen übers Gesicht, so war das nicht geplant! 

Und ich dachte zuerst, die zehn Euro Spende wäre zu viel…

Strecke: 27,8 km / Schritte: 42097

Ich durchquere das Dorf Viloria de Rioja. Typisch für jedes einzelne Dorf ist das Zwitschern der Spatzen.
Zu guter letzt noch das Camino Time Lapse Video, in dem aber in Belorado die Etappe bereits zu Ende ist. Ich bin ein Dorf weiter gelaufen.

Ich freue mich über ein paar Worte