Tag 18, 25. Juni 2023
Wie herrlich es ist vom Gesang der Lerchen wach zu werden, und viertel nach vier ist auch die perfekte Zeit dafür.
Die Luft hier in der Meseta ist so unglaublich trocken, daß ich in der Nacht Halsschmerzen bekommen habe, und meine angegriffenen Nasennebenhöhlen brennen beim Atmen. Sogar das Zelt ist völlig trocken von außen, kein Kondensat, nichts!
Während ich in der fast totalen Dunkelheit noch im Zelt herum krame, kommt schon der erste Pilger an mir vorbei. In der Ferne blitzen die roten Positionslichter der Windkrafträder, und ein zarter Lichtstreifen am Horizont kündigt den Tag an und löscht die Sternendecke über mir, als ich losgehe.
Nach kurzer Zeit erreiche ich den Ort Hontanas und traue meinen Augen kaum. Auf der Dorfwiese am Ortseingang stehen unter Bäumen zwei Zelte neben einem Brunnen, und ein weiterer Pilger schläft zwischen Picknicktischen und Bänken in seinem Schlafsack eingekuschelt unter freiem Himmel. Wäre ich gestern nur ein kleines bisschen weiter gelaufen, hätte ich hier im Schatten verweilen und so viel Wasser saufen können, bis es mir aus den Ohren wieder raus kommt und auch hier zelten können.
Also eins steht fest, ich werde heute definitiv bis in eine Ortschaft laufen, denn bestimmt hat jedes Dorf hier eine Art Dorfwiese mit einem Brunnen, ich habe nur nie darauf geachtet!
Mir gefällt Hontanas, als ich durch gehe und denke mir, daß ich gerne für eine Nacht hier bleiben würde, sollte ich jemals wieder her kommen. Für Kaffee ist es aber dennoch zu früh, den bekomme ich erst im nächsten Ort Castrojeritz.
Ein Pilger vor mir kauft sich an der Theke einer Bar in Castrojeritz einen Kaffee und sieht vor sich zwei Stücke Pizza. Die Pizza ist viereckig, etwas kleiner als eine normale runde Pizza, und der Preis ist mit drei Euro und fünfzig Cent pro Portion angegeben. Der Pilger möchte ein Stück kaufen, und als er bezahlen will, sieht er plötzlich das Brettchen mit seiner Portion darauf, gerade mal ein Drittel davon, vielleicht halb so groß wie meine Hand.
Er: »Ist das für mich?«
Sie: »Ja.«
Er schaut irritiert von dem Brettchen vor sich zu dem Stück Pizza auf der Theke und sagt dann in ruhigem Ton, »Ganz schön teuer.«
Sie flippt daraufhin fast aus. »Was erwartest du? Soll ich die Pizza für einen Euro verkaufen, oder was? Fahr mal nach Amerika, da bezahlst du das dreifache von dem hier!«
Der arme Pilger ist völlig verstört, hat er doch einfach nur Hunger und mehr erwartet für seine drei Euro fünfzig. Natürlich muß ich mich wieder mal einmischen, weil ich diese Ungerechtigkeit nicht einsehe. Woher soll er denn wissen, daß er nur ein paar Bissen dieser Pizza bekommt, denn dafür ist der Preis wirklich hoch, erst recht für den Jakobsweg. Die Barfrau kriegt sich gar nicht ein und schimpft weiter, daß sie gerade in Frankreich war und wie teuer dieses und jenes dort wäre, und sie selbst sei ja aus Argentinien, und überhaupt, Spanien sei ja so billig, was wir also wollen, und so weiter. Irgendwie hört sie gar nicht mehr auf, dabei sagt keiner von uns noch irgendwas. Am liebsten würde ich einfach rausgehen und gar nichts bei ihr kaufen, aber ich will halt diesen Kaffee.
Draußen sehe ich dann den armen Pilger an seiner Minipizza rum nagen, sicherlich hat er das auf dem nächsten Kilometer wieder verbrannt.
Noch in Castrojeriz geht es auf knappe hundertfünfzig Höhenmetern steil die Alto de Mostelares rauf und auf der anderen Seite wieder runter. Dahinter sind nichts als Felder soweit das Auge reicht und der Weg, der staubig trocken durch die Einöde weiter in Richtung Westen führt. Ich höre nichts als das Zirpen der Grillen und einen Bauern, der mit seinem Trecker Gras zusammen kehrt.
Ich habe mir mein Leinenshirt loose über den Kopf gelegt und genieße das Wandern in der Meseta Central sehr. Mit der Sonne im Nacken ist es wesentlich angenehmer, als wenn sie von vorne kommt, so wie gestern Nachmittag.
An einer Stelle ist eine Baumgruppe, darunter stehen ein paar Tische und Bänke. Daneben hat ein junger Bursche einen Klapptisch aufgestellt und bietet diverse Sachen an wie Kaffee, kalte Getränke, Obst, kleine Kuchen, Müsliriegel und solche Sachen. Ich nehme mir eine Banane, eine Orange und ein Aquarius und frage, was es kostet. Der Junge sagt, es kostet so viel, wie ich ihm geben möchte. Was für eine tolle Idee, ich gebe ihm drei Euro und esse alles vor Ort, damit ich nichts tragen muss und freue mich über die zu mir genommen Vitamine und die wohltuende Pause im Schatten der Bäume.
Nur lächerliche zwei Kilometer vor meinem Ziel, Boadilla del Camino, kann ich nicht mehr auftreten, so sehr schmerzen meine Füße. Da ist ein Baum, unter den ich mich auf meine Isomatte in den Schatten lege. In einer Art Trog, in dem sich Wasser gesammelt hat, stelle ich meine armen Klumpfüße und möchte am liebsten weinen vor Wohltat. Das Brennen und Stechen danach ist allerdings fast wieder unerträglich. Aber es nützt ja nichts, ich muss ja noch ein wenig weiter.
Am Ortseingang sehe ich eine Wiese, die ich mir gut als Schlafplatz für heute Nacht vorstellen kann. Sie hat sogar einen Brunnen, das ist bestimmt die Dorfwiese. Hier bleibe ich, aber zuerst möchte ich essen. Eine Herberge mit Restaurant und Terrasse ist ausgeschildert, genau das richtige.
Es ist drei Uhr nachmittags. Das ganze Dorf wirkt wie ausgestorben, und als ich vor der Herberge stehe, kann ich mir nicht vorstellen, dass sie geöffnet ist, geschweige denn, dass es hier auch was zu essen gibt.
Als ich durch die Tür gehe, ist nicht viel los. Ein Mann steht hinter einer Theke und fragt mich, ob er mir helfen kann. So wie er fragt denke ich sofort, der Laden ist zu, trotzdem versuche ich meine Glück. »Can I have something to drink?«
»Yes, what do you want?«
Ich bin erleichtert und bestelle ein Bier. Mein Hunger ist riesig, meine Hoffnung auf etwas zum Essen ebenso. »Do you have something to eat?«
»Where are you from?« kommt als Gegenfrage.
Als ich sage, daß ich Deutsche bin, antwortet der Wirt auf deutsch, »Komm mit« und führt mich nach draußen auf eine helle sonnige Terrasse, wo Leute an Tischen sitzen und die leckersten Sachen essen. Damit habe ich nun gar nicht gerechnet, und ich bin so froh gleich auch was zu essen zu bekommen. Der Wirt kümmert sich toll um mich und schickt sogleich jemanden zu mir, der meine Bestellung aufnimmt.
Da ich mein Handy aufladen möchte, bevorzuge ich einen Platz innen, davon abgesehen hatte ich heute genug Sonne. Ich setze mich also in die hinterste Ecke des großen Eßsaals, schließe mein Ladekabel an und kühle meine Fußsohlen auf den kalten Fliesen des Bodens. Ich bestelle ein Pilgermenü bestehend aus Makkaroni Bolognese, einem knackigen Salat mit geröstetem Hähnchen und einem Eis am Stiel als Nachtisch. Es ist so unglaublich lecker, ich bekomme sogar eine Karaffe Wein.
Der ganze Moment ist irgendwie perfekt. Ich habe eine Toilette, einen kühlen Boden, habe zu trinken und zu essen, kann meine Akkus laden, und WiFi habe ich auch noch, ich kann mein Glück nicht fassen.
Nach dem Essen merke ich aber meine Erschöpfung. Ich möchte mich jetzt einfach nur hinlegen und gehe zurück zu Dorfwiese. Hier döse ich auf meiner Isomatte unter einem Baum und schlafe sogar kurz ein. Es ist sehr heiß, der Schweiß läuft mir nur so runter. Den Mücken gefällt das, deshalb schmiere ich mich mit Repellent ein, bevor ich komplett ausgesaugt werde.
So hänge ich hier auf der Dorfwiese herum und warte auf den Sonnenuntergang. Es kommen noch ein Franzose und ein Holländer dazu, die auch ihr Zelt hier aufschlagen werden, und schon sind wir zu dritt.
Zum Abendbrot gibt es was mein Rucksack mir bietet, und das sind Salami Sticks, Nüsse und Kekse und etwas Brot.
Später krieche ich direkt ins Zelt und möchte schnell schlafen. Mein Husten ist mittlerweile so stark, daß ich unmöglich in einer Pilgerherberge bleiben könnte, ich würde das ganze Zimmer wach halten.
Strecke: 29,7 km / Schritte: 46349