Tag 26, 03. Juli 2023
Morgens koche ich mir unten in der Küche heißes Wasser, weil ich gestern gelesen habe, daß heiße Getränke am Morgen die Darmflora anregen. Während ich das köstliche Nass schlürfe, verarzte ich meine Füße, denn meine rechten Ferse ist mittlerweile eine einzige Blase. Ich klebe ein Pflaster darüber, weil ich Angst habe, daß das Riesending aufplatzt und sich entzündet, wenn es offen an der Socke scheuert. Sämtliche anderen Druckstellen polstere ich mit der Schafwolle, die ich vor ein paar Wochen kurz hinter Cirauqui an dem ominösen Wegweiser gefunden habe.
Mein Darm lässt sich von dem heißen Wasser leider wenig beeindrucken, und auch der vorgesüßte Pulverkaffee, den ich mir an einem Automaten im Hof der Herberge ziehe, bringt nicht mehr als einen fiesen Nachgeschmack.
Weggedanken
Auf geht’s in Richtung Berge, wie aufregend! Ich freue mich wahnsinnig auf die nächsten Etappen, wenn ich auch nicht wirklich weiß, was mich erwartet.
Zunächst ist aber erst mal wieder Straße angesagt.
Hinter mir höre ich eine männliche Stimme „Hallo Ruhrgebiet!“ rufen. Es ist Andreas, der Deutsche aus der Meseta, der mit Flo, Julia, Birgit und mir in Hornillas del Camino am Tisch saß und immer in Einzelzimmern schläft.
Zusammen trinken wir im nächsten kleinen Ort einen Kaffee, den Andreas mir mit einem leckeren Croissant großzügig ausgibt. Er fühlt sich einsam, weil er kaum Deutsche auf dem Weg trifft und sein Englisch nicht besonders gut ist. Er lädt mich promt für heute Abend in Foncebadón zum Abendessen ein, so froh ist er, dass ich da bin.
Andreas und ich laufen eine ganze Weile zusammen weiter und führen ziemlich tiefsinnige Gespräche. Wir reden über Gott und ob wir glauben, daß es ihn gibt oder nicht und was wir denken, wer oder was er ist, und sowas alles.
Dann geht es darum die richtigen Entscheidungen zu treffen, und je mehr wir reden, desto weniger kann ich aufhören zu denken und merke, wie meine Gedanken in diverse Richtungen auseinander sprießen, bildlich gesehen wie ein Baum mit seinem Stamm und all seinen Ästen und Zweigen. Dabei ist der Stamm das eigentliche Problem, also das Thema. Die Äste sind all die Möglichkeiten, die ich habe mich zu entscheiden, und darüber hinaus das Abwägen von Vor- und Nachteilen. Die kleinen Zweige, die von den Ästen abgehen, sind die daraus resultierenden Nebengedanken mit all den Zweifeln und Ängsten sich womöglich falsch zu entscheiden.
Eine Antwort hat mein Baum Schema allerdings nicht. Vielleicht weil es kein Richtig oder Falsch gibt bei der Entscheidungsfindung.
Denn im Endeffekt weiß ich doch gar nicht, wie die andere Wahl über kurz oder lang ausgegangen wäre. Eine zunächst falsche Entscheidung kann sich später zu etwas Gutem entwickeln, und dann war sie gar nicht falsch. Natürlich kann die falsche Entscheidung auch ganz mies ausgehen, aber weiß ich, ob es nicht noch schlimmer gekommen wäre, hätte ich mich für das andere entschieden? Letztendlich muss ich nur das Beste aus dem Resultat machen. Mein Leben liegt in meiner Hand, ich kann es selbst bestimmen. Außer Gesundheit kannst ich es weitgehenst selbst beeinflussen.
Ich beobachte Andreas, wie er läuft, sein Kopf ist immer leicht gesenkt. Dadurch entgeht ihm die Schönheit der Landschaft, aber vielleicht denkt er nach. Jemand, der beim Gehen ständig auf den Boden guckt, denkt meistens nach.
Die Landschaft ist jetzt gekennzeichnet von einer üppigen Vegetation, um mich herum sind Sträucher, kleine Bäume und viel Wiese.
In nicht zu großer Entfernung vor mir beginnt das hügelige Land. Auf einem dieser Anhöhen muß das Cruz de Ferro stehen, ein auf einem Baumstamm montiertes Eisenkreuz und eines der berühmtesten Wahrzeichen auf dem Jakobsweg, denn es markiert den höchsten Punkt auf dem Camino Francés. Ich werde morgen auf meinem Weg nach Ponferrada daran vorbei kommen.
In dem kleinen Straßendorf El Ganso steht eine schöne alte Pfarrkirche mit einem Storchennest auf dem Turm. Vor den mittelalterlichen Steinhäusern blühen Stockrosen, die Sonne scheint, die Vögel zwitschern, es ist traumhaft. Hier ist ein kleiner Supermarkt, der Sachen wie Reis, Haferflocken, getrocknetes Obst und Dosen mit Erbsen oder Pilzen in kleinen Portionen anbietet, speziell für Pilger ausgerichtet. Mit dem Fokus auf meine Verdauung kaufe ich einen Naturjoghurt, Haferflocken und Backpflaumen und schlemme die gesunde Köstlichkeit draußen im Sitzbereich des Cafés. Auch Andreas ist da. Wir treffen unterwegs immer wieder aufeinander, trinken dann auch meistens was zusammen oder essen Eis. Ich gebe zu, es ist schön mal wieder deutsch zu sprechen, aber nonstop könnte ich Andreas nicht um mich haben. Irgendwas ist da an seiner Aura, das mir unangenehm aufstößt. Nicht dass er sich über alles beschwert, aber es schwingt immer etwas negatives mit dem, was er sagt.
Von El Ganso sind es nur noch zwölf Kilometer bis Foncebadón. Einmal geht es durch einen wunderschönen Wald, an dessen Wegrand ein Naturzaun verläuft, an dem lauter aus Ästen zusammen gebastelte Kreuze hängen.
Später komme ich dann an eine zum Berg hin aufsteigende Wiese mit einem Brunnen und einer Bank zum Ausruhen vorbei. Von hier habe ich eine herrliche Sicht auf die umliegende Landschaft. Es weht ein angenehmer Wind, und der Boden hier fühlt sich so weich an, als wäre er ein einziges Mooskissen. Wie gerne hätte ich jetzt mein Zelt, hier würde ich bleiben wollen.
Andreas bleibt unten am Weg stehen, als er mich sieht. Weil ich ihm vorher gesagt habe, daß ich gerne alleine gehe, traut er sich jetzt nicht zu mir hoch zu kommen. Er kommt tatsächlich erst, als ich ihm lachend zurufe, daß er selbstverständlich herkommen darf.
Ich freue mich auf ein leckeres Abendessen mit Andreas. Auch wenn er schon wieder mehrfach das Wort ‚Scheiße‘ gesagt hat und seine ganze Körpersprache sehr negativ ist. Wenn man seine Stimme abstellen und nur seinen Gesichtsausdruck und seine Gestik währen des Sprechens sehen würde, könnte man meinen, daß er sich über etwas wahnsinnig aufregt. Jedes Mal, wenn wir uns begegnen, sagt er sowas wie, ‚das war ja mal wieder ein steiler Anstieg‘, oder ‚ist das wieder mal heiß‘, oder ‚ist das nicht wieder sehr anstrengend heute?‘, dabei schüttelt er dann fassungslos mit dem Kopf. Wie schön es hier ist scheint er zu übersehen. Wenn ich aber bedenke, daß er am Tag vor unserer ersten Begegnung vor ein paar Wochen schon im Taxi zum Flughafen saß um nach Hause zu fliegen, hält er sich jetzt trotz allem ganz gut. Schließlich hat er die Meseta überstanden, und das heißt schon was.
Ich höre die ganze Zeit Musik, hauptsächlich Runrig und Depeche Mode. Mit schöner Musik auf den Ohren kann ich noch mehr in diese schöne Gegend eintauchen. Wie die nette Gesellschaft zu einem guten Essen, runden die Klänge das Ganze irgendwie ab.
Auf dem Teilstück nach Rabanal del Camino sind es noch mal dreihundert Höhenmeter mehr. Der Ort selber ist wieder wunderschön und ebenso malerisch wie zuvor El Ganso. Leider führt der Brunnen kein Wasser, dabei muss ich dringend meine Flasche auffüllen. Ich frage in einer Bar, ob ich Wasser bekommen kann, aber der Barmann sagt, daß das Wasser im Dorf momentan abgestellt ist. Das erklärt zumindest den trockenen Brunnen.
Der Barmann bietet mir stattdessen an Wasser in der Flasche zu kaufen, doch als er mir ein Euro fünfzig für eine kleine Flasche Wasser abnehmen will, lehne ich dankend ab. So ein Halsabschneider. Glücklicherweise ist ein Stück die Straße rauf ein kleiner Supermarkt, wo ich die gleiche Flasche Wasser für achtzig Cent bekomme.
Foncebadón
Der Aufstieg nach Foncebadón ist weiterhin wunderschön und so ganz anders als all das restliche Kastilien. Nicht daß es vorher nicht auch schön war, aber jetzt ist es für meinen Geschmack traumhaft.
Foncebadón ist ein Bergdorf auf knappen eintausendfünfhundert Metern. Es wurde zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts im Unabhängigkeitskrieg gegen die napoleonischen Truppen zerstört und hinterher wieder aufgebaut. In den achtziger Jahren sank die Einwohnerzahl auf Null und wurde mit all seinen Ruinen zum Geisterdorf. Bekannt war das Dorf auch durch vielen wilden Hunde, vor denen viele Pilger selbst vor wenigen Jahren noch Angst hatten. Irgendwann wurden die Hunde wohl aber alle eingefangen, seitdem gibt es auf dem gesamten Jakobsweg keine mehr. Dank des Caminos ist Foncebadón überhaupt wieder besiedelt, wenn auch im Winter nur im niedrigen zweistelligen Bereich.
Foncebadón ist eigentlich nur eine einzige Bergstraße mit kleinen Häusern links und rechts und gemütlich aussehenden Herbergen und Cafés. Zu Beginn stehen nach wie vor viele Ruinen, die zerfallenen Steinmauern sind teilweise komplett zugewachsen.
Ich fühle mich sofort sehr wohl hier und freue mich in der gleichen Herberge wohnen zu können wie Andreas, denn hier gibt es sowohl Mehrbett- als auch Einzelzimmer. Am Ende habe ich auch ein Einzelzimmer, denn kein anderer Pilger kommt in meinem Sechsbettzimmer dazu. Es ist schön, daß ich mich jetzt mal so richtig im Zimmer entfalten kann, ohne andere dabei zu haben. Ich wasche auch sogleich ein paar Sachen und hänge sie zum Trocknen auf die Leine in den schönen Hintergarten.
Abends essen Andreas und ich dann gemeinsam die obligatorischen Fleischläppchen mit Salat und Pommes. Aber irgendwie ist es heute Abend anders, wir reden kaum. Es ist so, als hätten wir uns plötzlich nichts mehr zu sagen. Und weil mir auch kalt ist und ich ziemlich müde bin, bedanke ich mich für die Einladung und ziehe mich auf mein Sechsbettzimmer zurück.
Strecke: 25,2 km / Schritte: 37608