Barbadelo – Gonzar

Tag 32, 09. Juli 2023

Die Nacht ist der Horror. Alex schnarcht wie verrückt, trotz Ohrstöpsel höre ich das. Aber das ist nicht das Schlimmste. Die Matratze ist total durchgelegen, das ist aber auch nicht das Schlimmste. Das Schlimmste ist, daß ich mindestens vierzig Mückenstiche habe, an Armen, Händen, Füßen, Beinen, Hintern, Rücken, also eigentlich überall. Sogar durch die Hose haben sie mich gestochen, mein ganzer Körper brennt! Ich muss mich zusammenreißen, daß ich nicht kratze, bei mir schwillt doch jeder Stich immer gleich an. Ohne Zähneputzen und Waschen verlasse ich fluchtartig das Zimmer und packe mein Zeug draußen zusammen. Eine Mitbewohnerin von letzter Nacht kommt auch raus, und ich denke, die hat‘s auch erwischt, aber sie hat nicht einen einzigen Stich! Da stimmt doch was nicht. Ich esse eine Antihistamin Tablette und hoffe, daß ich nicht anschwelle. Oh wie das juckt! 

Es ist noch dunkel, als ich um sechs Uhr losgehe. Mein GPS weist mir den Weg, denn gelbe Pfeile kann ich noch keine erkennen.
Nach acht Kilometern komme ich endlich an ein geöffnetes Café in A Brea. Dort sitzen bereits Alex und sein deutscher Wanderbegleiter. Beide haben ebenfalls keinen einzigen Stich, also ich verstehe das nicht. 

100 Kilometer

Der Weg ist heute ausnahmslos wunderschön und auch gar nicht anstrengend. Die meiste Zeit bin ich alleine auf dem Weg, das Wetter ist angenehm, nicht zu warm.
Am Ortseingang von A Pena passiere ich schließlich den Meilenstein, der die letzten 100 Kilometer markiert. Er sieht unspektakulär aus wie er da vollgekritzelt am Rande eines Ackers steht. Ursprünglich stand er zwischen A Brea und Morgade, wurde aber nach einer Neuvermessung des Jakobswegs hier her versetzt.

Ich werde sehr emotional. Jetzt ist es offiziell, der Weg ist bald zu Ende. Ich muss viel weinen, insbesondere mit meiner Musik auf den Ohren. Lieder, die mich in Zukunft an diesen Weg erinnern werden.
Ab jetzt darf ich auch nicht vergessen zwei Stempel pro Tag zu sammeln, denn wer zu Fuß oder Pferd unterwegs ist, benötigt auf den letzten 100 Kilometern zwei Stempel pro Tag, damit einem die Compostela nicht aberkannt wird. Radfahrer müssen hingegen auf den letzten 200 Kilometern zwei Stempel pro Tag vorweisen können.

Ich komme durch viele kleine urige Dörfer, alles ist aus Stein, die Häuser, die Mauern, und alles ist so klein. Ich höre nichts außer krähende Hähne, muhende Kühe, bellende Hunde und wie immer viele, viele zwitschernde Spatzen. Menschen sehe ich so gut wie gar keine. Angeblich soll doch hier alles so überlaufen sein von den 100-Kilometer-Pilgern?!

Portomarin habe ich nur gestreift, keine Ahnung warum. Ich muss irgendwo die falsche Abzweigung genommen haben. Später stelle ich fest, daß ich hinter der Brücke über den Stausee nicht nach links, sondern geradeaus die Treppen rauf hätte gehen müssen. Kurz darauf übersehe ich noch zwei nebeneinander stehende Meilensteine, von denen einer die historische Route nach links kennzeichnet und der andere eine Komplementärroute nach rechts. Und als ich so nach rechts in den Wald abbiege, stelle ich fest, daß ich mich unbewusst auf der Komplementärroute befinde und dadurch leider auch San Roque ausgelassen habe. Dort hätte ich einen Stempel bekommen und mit Sicherheit auch etwas zu essen. Auf meiner Karte ist bis zu meiner Ankunft in Gonzar kein Dorf mehr ersichtlich. Hoffentlich reicht mein Stempel aus A Brea.

Gonzar

Das schwere Eisentor meiner Herberge in Gonzar ist verschlossen, als ich ankomme. Ich klopfe, öffne das Tor und stehe in einem kleinen Hof, auf dessen rechter Seite sich eine Bar befindet und verteilt ein paar Tische und Stühle stehen. An einem der Tische sitzen eine ältere und eine jüngere Frau. Die jüngere, offenbar die Herbergsmutter, kommt auf mich zu und sagt, daß sie erst um 13:00 Uhr öffnen. Ich entschuldige mich und bin gerade dabei wieder zu gehen, als sie mich schließlich doch herein bittet. Ich erkenne auch bald schon den Grund, denn ich werde heute die einzige Pilgerin sein, die in dieser Herberge schläft. Außer meiner gibt es keine weiteren Anfragen, nur zwei Privatzimmer wurden noch gebucht. Ich habe also ein 40-Betten-Zimmer für mich alleine. Dieses „Zimmer“ ist nochmal durch einen kleinen Korridor geteilt, die Wände bestehen aus massivem Mauerwerk. Etliche Holzstockbetten mit richtigen Laken füllen den Raum, und es ist eigentlich gemütlich, nur halt recht einsam. Meine Entscheidung fällt auf ein Bett in der hintersten Ecke, da fällt mir die Leere nicht so auf.
Zum Glück sind Fliegengitter vor den Fenstern, die halten wenigstens die Mücken ab. 

Vadim

Ab 13:00 Uhr öffnet auch die Küche, und da ich hungrig bin, beschließe ich so schnell wie möglich zu essen. Frühstück hatte ich ja nicht wirklich, habe lediglich ein paar mal vom trockenen Kuchen von gestern abgebissen.
Als ich kurz vor dem Essen noch mal einen Blick vor die Tür werfe, sehe ich rechts die kleine Pfarrkirche Santa Maria. Und wer sitzt davor? Kirchenschläfer Vadim. Er lächelt als er mich sieht, und ich freue mich auch. Ich frage ihn, ob er mit mir essen möchte, aber typisch für ihn, er lehnt ab und beschwört, er habe genug Essen.
Später kommt er in den Hof der Herberge und kauft sich bei der jungen Herbergsmutter an der Bar ein Aquarius. Er unterhält sich kurz mit ihr, loggt sich ins WLAN ein und verschwindet wieder. Die Herbergsmutter geht an mir vorbei und zeigt ein Vogel, so nach dem Motto, der Junge hat sie ja nicht mehr alle. Daraufhin kläre ich sie über seinen Hintergrund auf, soweit ich kann jedenfalls und erwähne, daß er ein feiner Kerl ist, der auf dem ganzen Weg nur draußen oder in Kirchen schläft und eher gibt als daß er nimmt, woraufhin es ihr sichtlich Leid tut so reagiert zu haben, weil sie überlegt ihm einen Teller Suppe zu geben. Aber ich sage ihr, dass ich ihn schon gefragt habe, ob er essen möchte, was er abgelehnt hat.
Ich bin gerade mit dem Essen fertig, da kommt Vadim zurück und setzt sich zu mir an den Tisch. Wir versuchen eine tiefsinnige Konversation, was sich schwierig gestaltet mit seinem schlechten Englisch, aber im Grunde geht es um Gott, ums Glauben und die Aufgaben im Leben und so weiter. Vadim sagt, daß viele Leute meinen, er sei verrückt, weil er so ist wie er ist. Hier auf dem Jakobsweg fühlt er sich befreit und gereinigt. Er möchte für andere da sein, und am liebsten immer an einem anderen Ort sein. Noch nie habe er so viele Freunde gehabt wie jetzt hier auf dem Camino. Wo eine Kirche ist, fühlt er sich sicher.
Da ist so viel Positives in dem was er sagt und wie es es sagt, aber auch viel Trauer und Hoffnung und gleichzeitig die Ungewissheit, wie es für ihn weitergeht, nachdem er Santiago de Compostela erreicht hat.
„Tränen waschen die Augen“, sagt er, als sie mir die Wangen runter laufen. Ich stelle mir vor wie es sein muß alles verloren zu haben, dann für Monate unterwegs zu sein mit dem Ziel Santiago, weil man überzeugt davon ist gerufen worden zu sein. Was wenn dort nichts auf ihn wartet? Was wenn alles nur aus ihm kam, weil die Hoffnung das einzige war, das ihn weitermachen ließ? Was ist nach Santiago? Aber vielleicht ist es genau der Weg, der ihn retten wird und gar nicht das Ziel. Ob ihm das bewusst ist? Doch, ich glaube schon. Einer wie er wird seine Antworten bei Gott finden und nie alleine sein, solange er seine geliebten Kirchen hat. Und über kurz oder lang wird der Weg für ihn Früchte tragen. Für mich ist Vadim in jedem Fall mein Camino Star, und ich bin stolz von ihm den kleinen Jakobsmuschel Anhänger in Hornillos del Camino bekommen zu haben. 
Vadim will heute noch weiter laufen und macht sich schon bald wieder auf den Weg. Ich hingegen gehe zurück zu meinem Bett, döse und surfe etwas im Internet. Aber irgendwie fällt mir die Decke auf den Kopf mit all den leeren Betten um mich herum. Wo sind denn nur all die Pilger?

Als ich zurück in den Hof komme, sitzen dort sämtliche Einwohner Gonzars und Umgebung an der Bar und starren mich an. Wohin sollen sie auch sonst gehen um mal unter Leute zu kommen, weil mehr als die Kirche und ein paar Häuser ist hier ja  nichts. Angeblich soll es in Gonzar mehr Kühe als Einwohner geben, was ich mir gut vorstellen kann, denn ich sehe nichts als Kuhställe, als ich durchs Dorf schlendere. Die kleine Kirche ist wirklich das Highlight, wobei ich glaube, daß da auch nicht mehr als zwanzig Leute rein passen.

Die Bar ist wie leer gefegt, als ich zurück komme. Stattdessen sitzen da jetzt zwei Holländer, die mit ihrem Fahrrad seit Amsterdam unterwegs sind, und bald kommt noch ein junger Amerikaner dazu. Das sind also die beiden reservierten Privatzimmer, und ich bin tatsächlich alleine in diesem riesigen Stockbetten Lager. Ist dann halt so. Wenigstens brauche ich morgen keine Rücksicht nehmen und kann so laut ich will meinen Rucksack packen.
Der junge Amerikaner heißt übrigens Jason und geht sage und schreibe bis zu sechzig Kilometer am Tag! Er ist am 23. Juni in Saint-Jean-Pied-de-Port gestartet, ich hingegen am achten, unfassbar. In zwei Tagen möchte er in Santiago sein, ich in vier. 

Jason gibt mir vier Benadryl Tabletten, die mir gegen den Juckreiz wegen der Mückenstiche helfen sollen. Am liebsten möchte ich mir die Haut abkratzen, so sehr juckt alles. 

Ich werde mir jetzt einen Griswold Film anschauen und dann versuchen zu schlafen. Ich möchte mir auch keine Sorgen machen über David, der just in diesem Moment den Oldtimer von Loughton zum Cottage fährt, in der Rushhour und in bulliger Hitze. Noch dazu ist der Akku seines Handys fast leer. Warum kann er das Auto nicht außerhalb der Rushhour nach Hause fahren? Und warum sorgt er nicht dafür, dass sein Handy genug Akku hat? Ich wette, er hat auch kein Wasser für sich mitgenommen. Ach, ich möchte nicht darüber nachdenken müssen.

Die Tablette von Jason wirkt schnell, zwar wird der Juckreiz nicht besser, aber ich werde extrem müde. Ich schaffe es nicht, den Griswold Film zu Ende zu gucken.

Strecke: 25,9 km / Schritte: 38051

Ich freue mich über ein paar Worte