Tag 22, 29. Juni 2023
Nachts ist die Luft im Zimmer zum Schneiden dick. Ich stelle fest, dass die Spanierin-Frau die Jalousie vom einzigen Fenster an ihrem Bett komplett runter gelassen hat und somit überhaupt keine Luft mehr ins Zimmer kommt, dabei war es den ganzen Tag schon stickig, trotz geöffneten Fensters. Ich öffne die Tür zum Flur, um zumindest den Mief raus zu lassen.
Morgens kramt sie mit eingeschalteter Kopflampe wieder als erstes rum. Sie könnte auch einfach die Jalousie etwas hochziehen, dann käme etwas Licht ins Zimmer und außerdem frische Luft! Ich bitte sie also, die Jalousie etwas zu öffnen, aber sie fuchtelt nur mit den Händen, sagt irgendwas das ich nicht verstehe und deutet dabei auf den Italiener und seinen Sohn. Also stehe ich auf und mache es selbst, woraufhin sie mich regelrecht anfaucht, »they still sleeping, they still sleeping!«, dabei deutet sie wild mit ihren Armen auf Vater und Sohn und schüttelt den Kopf, als würde ich weiß Gott was Schlimmes machen.
»You are a horrible woman«, platzt es aus mir heraus, aber ich glaube, sie hat das gar nicht verstanden. Still sleeping…, als ob es sie interessiert, daß da noch jemand schläft, bei dem Lärm den sie macht. Auf mich hat sie gestern ja auch keine Rücksicht genommen.
Ich mache die Jalousie also halb hoch, was außer frischer Luft überhaupt nichts schlimmes bewirkt, es ist sogar noch dunkel draußen, und Vater und Sohn wachen nicht auf. Wahrscheinlich schlafen sie gar nicht sondern sind längst erstickt!
Ich verstehe nicht, wie manche Leute in so muffigen Zimmer ohne Frischluft überhaupt schlafen können. Hier hängt die durchschwitzte Wanderkleidung von mehreren Leuten, stinkende Socken liegen herum, und auch unsere Schuhe stehen im Zimmer. Von anderen Ausdünstungen ganz zu schweigen.
Die Spanierin-Frau ist zuerst fertig, läßt aber ihre eingeschaltete Kopflampe auf ihrem Bett liegen, als sie wortlos das Zimmer verlässt. Eine viertel Stunde später kommt sie wieder und fragt mich, ob ich ihre Lampe noch brauche. Nein danke, habe ich von vorne herein nicht. Seltsame Person.
Erst um viertel vor sieben komme ich los. Heute ist wieder ein relativ langer Tag von siebenundzwanzig Kilometern angesagt. Ich kann mir aber Zeit lassen, denn ich habe bereits gestern für heute ein Bett in einer Herberge in Mansilla de las Mulas gebucht, die ich in meiner Pilger App gefunden habe.
Was soll ich sagen, außer daß der Weg mal wieder ausschließlich geradeaus auf einem Pfad entlang einer Landstraße verläuft.
Unter Karl III. von Spanien wird diese Straße zum Camino Real, dem Königlichen Weg, also zur Straße ersten Ranges.
Ein Mann überholt mich und grüßt freundlich. Ich grüße zurück und erwähne beiläufig, daß ich dringend einen Kaffee brauche. Der Mann stimmt mir zu, wird langsamer, und wir fangen an zu quatschen. Welch Genuss für meine Ohren, denn der Mann ist Schotte. Ich liebe seinen Akzent. Sein Name ist Alex, und er kommt von der Insel Barra, da wo David und ich zusammen mit unseren Freunden Di und Bert letztes Jahr mit dem Wohnmobil waren. Alex ist mit einem Freund hier, aber sie laufen auch mal gerne getrennt voneinander. Ihr Gepäck haben sie in ihre nächste Herberge vorgeschickt und gehen jetzt nur mit einem kleinen Tagesrucksack. Viele machen das auf dem Camino, selbst der kleine Roly hat das gemacht, aber für mich kommt das nicht infrage.
In einem Café in El Burgo Ranero gibt es nach acht Kilometern endlich meinen lang ersehnten Kaffee und noch dazu ein Tortilla Sandwich mit Käse, Schinken, Salat und Tomate. Genau das richtige jetzt. Und wer sitzt auch in diesem Café? Die schrullige Spanierin-Frau. Sie nickt mir beiläufig zu, ich glaube, sie mag mich ebenso wenig, wie ich sie. Im Laufe des Tages begegne ich ihr immer wieder und hoffe, daß sie nicht in derselben Herberge wie ich sein wird heute Nacht, geschweige denn im selben Zimmer.
Alex setzt sich zu mir an den Tisch, und ich möchte ihm ewig zu hören, trotzdem gehen wir anschließend getrennt weiter, und zwar geradeaus. Ich bin fast überfordert, als eine Kurve kommt.
Kurz vor Reliegos ist wieder Pause angesagt, nach einundzwanzig Kilometern auch mehr als verdient. Ich setze mich zu Alex, der dort bereits angekommen ist, zusammen mit seinem Freund Philipp aus Bristol.
Eine kleine Katze schleicht um unsere Beine, schreiend vor Hunger. Es zerreißt mir das Herz, Philipp ekelt sich und zieht immerzu sein Bein weg. Die Katze geht aber ausgerechnet immer wieder zu ihm, es ist zu lustig. Als ich ihr ein kleines Stück von meinem Kuchen auf den Boden lege, stürzt sie sich darauf und schlingt es mit einem Mal runter. Ich wünschte, ein Supermarkt wäre in der Nähe, wo ich Katzenfutter kaufen könnte.
Und als wir da so sitzen und der arme Philipp eine Gänsehaut nach der anderen kriegt, trottet jemand den Weg entlang, und ich traue meinen Augen kaum. Es ist Lukas, der junge Mr. Bean beziehungsweise Sheldon Cooper, einer derjenigen, der zu unserer bunten, fünfköpfigen Truppe gehörte an jenem Tag in Pamplona. Ich freue mich tierisch, laufe auf ihn zu und springe ihn regelrecht an vor Freude. Lukas, wie er so ist, bleibt stocksteif stehen und legt zögernd und ebenso steif seinen Arm um mich, freut sich aber auch und setzt sich zu uns.
Von dort an gehen wir gemeinsam weiter bis nach Mansillas de las Mulas, denn das ist auch sein heutiges Ziel. Lukas wundert sich, daß ich schon so weit gekommen bin, wo ich doch in Villatuerta zwei Tage krank war. Ja, ich habe viel aufgeholt. Und es würde mich gar nicht wundern, wenn ich eines Tages auf diesem Camino Andrew und Aki auch noch wieder sehe.
Der Ort Mansilla de las Mulas verdankt seinen Namen wahrscheinlich den Eseln, die in dieser Gegend für den Warentransport genutzt wurden, er war also sozusagen Rastplatz der Mulis. Die Stadtmauer aus dem zwölften Jahrhundert ist gut erhalten, leider habe ich kein Foto gemacht. Ausserdem gibt es hier viele historische Gebäude und beeindruckende Kirchen.
Meine gebuchte Herberge sieht von außen jedoch wenig beeindruckend aus. Außerdem würde ich lieber da sein, wo die meisten Leute sind, denen ich heute begegnet bin. Heute ist mir nämlich nach Gesellschaft, und da ist mir die Qualität der Herberge fast egal. Schließlich sage ich meiner gebuchten Herberge ab und folge zunächst Lukas auf der Suche nach einer ganz bestimmten städtischen Herberge. Aber nach einiger Lauferei stellt sich heraus, dass sie dauerhaft geschlossen ist. Lukas ist sichtlich enttäuscht, kommt dann aber mit mir zurück zum Ortseingang, wo wir im Vorbeigehen etwas gesehen haben, das ganz gemütlich aussieht. Leider mit sechzehn Euro völlig überteuert, wie sich bald herausstellt, aber was soll‘s. Alex und Philipp sind auch hier, und man sollte nicht für möglich halten wer plötzlich noch reinschneit, nämlich Richard und Justin. Wir sitzen eine ganze Weile mit noch anderen Leuten im Garten, trinken Bier und Sangria und essen Schokolade.
Die Spanierin-Frau ist zum Glück nicht aufgetaucht.
Abends sind wir alle in einem Restaurant, in dem es vor sieben nichts zu essen gibt. Also hängen wir draußen an den Stehtischen rum und trinken stattdessen weiter.
Mit dem jungen Engländer James entwickelt sich ein intensives Gespräch, auf dessen Inhalt ich jetzt nicht näher eingehen möchte, aber ich habe ihm die Augen geöffnet, und er fällt mir um den Hals, weil er plötzlich etwas für sich sehr wichtiges verstanden hat, das ihm bis dato nicht klar war. Und auch ich bin mir einer Sache bewusst geworden. Wie ich aber in Zukunft damit umgehen soll, weiß ich nicht.
Strecke: 26,7 km / Schritte: 39526
Auch heute wieder kein Time Lapse Video, da ich auf diesem Wegabschnitt auf der »neueren« Route unterwegs bin. Die Alternativroute, die die Filmer gewählt haben, verläuft nördlicher entlang der Römerstraße Via Traiana.