Boadilla del Camino – Carrión de los Condes

Tag 19, 26. Juni 2023

Gestern Abend war es schon arg windig, und heute morgen immer noch und außerdem ziemlich kalt. Der Holländer und der Franzose schlummern noch in ihren Zelten, als ich mich früh vom Acker mache.
Es sind sechs Kilometer bis nach Frómista, eine ganze Weile geht es am Canal de Castilla entlang. Bis zur Industrialisierung Mitte des neunzehnten Jahrhunderts wurde der Kanal viel für den Transport innerhalb Kastiliens genutzt. Mich erinnert das hier stark an Ostfriesland von der Landschaft her, der Kanal könnte glatt der Dortmund-Ems Kanal sein.

In Frómista frühstücke ich in einer schmierigen Bar ein Stück Kuchen und einen Kaffee. Ich weiß gar nicht, warum die meisten Bar-Frauen immer so rotzig wirken. Ist das die spanische Mentalität? Am liebsten hätte ich den abgepackten Kuchen gar nicht erst bezahlt, sondern einfach aufgemacht und gegessen. Aber ich reiße mich zusammen, bin ja schließlich auf dem Jakobsweg. Aber gerade hier würde ich mir wünschen zumindest angesehen zu werden, wenn ich etwas kaufe, und noch besser wäre es, wenn man obendrein noch mit mir spricht.
Von jetzt an geht der ganze Weg nach Carrión de los Condes an der Hauptstraße entlang. Trotzdem ist es irgendwie toll, denn es fahren kaum Autos, das Wetter ist angenehm, und es duftet überall so herrlich nach Spanischem Ginster, der am Straßenrand blüht.
In Población de Campos wähle ich eine Alternativroute, die mich zumindest für knappe sechs Kilometer von der Hauptstraße weg führt. Hier geht es zwar auch nur geradeaus, aber wenigstens ist es landschaftlich etwas hübscher. 
Etwa fünfzig Meter vor mir geht ein schlaksiger, stark dunkelhäutiger und gut aussehender junger Mann und neben ihm ein stämmiger, etwas sich plump fortbewegender, dessen Gang mir sehr bekannt vorkommt. Es ist Richard. Er erkennt mich nicht direkt, ist ja auch schon lange her, aber als ich näher komme, blitzt mir seine Zahnspange unter breitem Grinsen entgegen. Sein drahtiger Mitläufer ist der Schweizer Lewis, von dem ich eine exotischere Nationalität vermutet hätte. Wir unterhalten uns kurz, dann ziehe ich aber schnell von dannen, denn eigentlich weiß ich nicht, was ich mit Richard außer dem üblichen Smalltalk reden soll. Einerseits mag ich ihn, weil er so anders ist, andererseits strengt er mich an. Vielleicht tue ich ihm unrecht, aber ich finde, er redet viel, sagt aber nichts. 

‚Geradeaus’ ist das Motto der Meseta, mit Straßen und Wegen, dessen Ende man nicht sieht, mal mehr frequentiert, mal weniger bis gar nicht. Auf einem mit Steinen und festen Sand durchzogenen Wegabschnitt fällt mir das Gehen schwer. Ich beobachte es auch bei anderen, wie sie manchmal eine asphaltierte Straße anstelle eines natürlichen Wanderweges bevorzugen, denn irgendwann schmerzt jede kleine Unebenheit unter den Fußsohlen. Ich wechsle von meinen Trail Running Schuhen zu meinen Sandalen, das schafft ein wenig Besserung, und ich komme gut vorwärts.
Die letzten zehn Kilometer nach Carrión de los Condes haben es in sich.
Carrión, Carrión, … klingt wie carry on!

Meine Gedanken haben auf der heutigen Etappe eine Menge Platz. Außerdem höre ich viel Musik und Aufnahmen von früher, die ich als Kind mit meinem Kassettenrecorder aufgenommen habe, wenn die Familie zusammen kam. Dadurch denke ich viel an meine Oma Marga und muß andauernd weinen, weil ich sie immer noch so vermisse. Sie starb vor vierunddreißig Jahren, ich war gerade neunzehn und das erste Mal in einer richtigen Klicke. Bis dahin war ich Spätzünder in allem, mit fünfzehn saß ich immer noch am liebsten im Apfelbaum meiner Oma. Als sie dann krank wurde, war ich kaum noch bei ihr. Statt sie zu unterstützen oder sie öfter zu besuchen, war ich nur noch bei meinen neuen Freunden. Ich denke heute, daß ich nicht wahrhaben wollte, daß sie sterben könnte, bislang war niemand der mir nahe stand gestorben. Seitdem bereue ich zutiefst, daß ich sie in der Zeit vor ihrem Tod so alleine gelassen habe und vor allem, daß ich ihr nie gesagt habe, wie sehr ich sie geliebt habe. Als Kind war ich ziemlich frech zu ihr, und auch später habe ich oft meine Pubertätslaunen an ihr ausgelassen.
Trotzdem hat sie mich bedingungslos lieb gehabt und alles für mich getan. Ich weiß noch, wie ich als kleines Kind immer auf ihrem Bauch einschlafen durfte. Dabei hat sie meinen Rücken gekrabbelt und mir immer wieder das Märchen vom Wolf und den sieben Geißlein erzählt, weil ich kein anderes Märchen hören wollte. Dieses Gefühl der Geborgenheit werde ich nie vergessen.

Irgendwann geht die Straße etwas bergauf, und ich denke, dahinter muss das Dorf sein, aber dem ist nicht so. Den Kirchturm kann ich in der Ferne zwar jetzt sehen, aber er ist immer noch unendlich weit weg. 
Carry on, carry on…

Das Wetter für heute Nacht sieht gar nicht so gut aus, deshalb habe ich beschlossen mal wieder in einer Herberge zu übernachten.
Endlich in Carrión de los Condes angekommen, steuere ich die Pilgerherberge Santa María del Camino auf der Calle de Santa María am Plaza de Santa María neben der Iglesia de Santa María del Camino an. Ha! Was habe ich mich darauf gefreut diesen Satz zu schreiben. 
Die Herberge der Pfarrei Santa Maria ist eine exklusiv religiöse Herberge, die von Augustinerinnen verwaltet wird. Nachmittags gibt es hier einen christlichen Empfang und eine musikalische Begegnung mit anschließender Eucharistiefeier, ein gemeinsames Abendessen, ein Nachtgebet und die Pilgersegnung. Ich muß gestehen, daß ich im Nachhinein und mit Abstand betrachtet gerne all das mitgemacht hätte, an diesem Tag, sowie an vielen anderen aber einfach zu erschöpft war. Oft ist mir auch gar nicht so bewusst gewesen, an welchem besonderen Ort ich mich eigentlich gerade befinde.
Deshalb sitze ich auch jetzt, während all das in der Herberge stattfindet, einfach nur auf dem Dorfplatz auf einer Bank und lausche dem, was da nebenan passiert.
Aber vorher habe ich Hunger. Leider sind hier so gut wie keine Bars oder Restaurants, und wenn da was ist, wo es scheinbar etwas zu Essen gibt, sieht es alles andere als gemütlich aus. Ich verstehe das nicht, hier sind so viele Pilger, die haben doch alle Hunger. Und überhaupt, wo sind die jetzt alle? Um mich herum sitzen nur Einheimische älteren Semesters. Das Restaurant, das ich schließlich finde, ist von innen einfach nur gruselig. Es hat keinerlei Ambiente, ist düster und bedrückend. So setze ich mich lieber nach draußen und bestelle mir eine Thunfisch Pizza und ein Bier. 

In der Herberge lege ich mich anschließend auf mein Bett und schlafe viel zu tief ein, ich komme hinterher überhaupt nicht mehr in die Gänge. Das einzige, was mir jetzt hilft ist eine Dusche, aber mich dazu durchzubringen kostet Energie. 
Eigentlich hatte ich mir vorgenommen später in die Pilgermesse zu gehen, stattdessen sitze ich jetzt eine Weile in der Kirche.. Einfach nur hier zu sitzen und die Stille zu genießen gibt mir mehr als eine Messe auf Spanisch, die ich nicht verstehe. 

Dann begebe ich mich auf die Suche nach einem Supermarkt, finde aber nur einen klitzekleinen Tante-Emma-Laden, der auch dunkel und gruselig ist, mit zwei sehr alten Männern als Kundschaft, die nonstop reden und nicht in die Gänge kommen. Ich finde auch irgendwie überhaupt nichts was mir zusagt und kaufe letztendlich nur eine Dose Aquarius zum trinken, zwei platte Pfirsiche und ein trockenes kleines Brot. Die Verkäuferin legt mir das einfach so auf die Theke, als ich bezahle. Ich frage nach einer Tüte, wenn Blicke töten könnten! Zumindest bekomme ich etwas Papier für das Brot. Das Wechselgeld wird mir auch völlig lustlos und widerwillig auf die Theke geknallt, ohne danke, ohne auf Wiedersehen, ohne Augenkontakt. Ist dann wohl wirklich so die spanische Mentalität. Nehme ich so hin, ist aber nicht mein Ding.
Dieses ganze Dorf wirkt frustrierend auf mich, weiß auch nicht wieso. Ich bin dann irgendwann zurück und habe mich etwas auf den Dorfplatz neben die Kirche gesetzt. Da fangen plötzlich die Glocken an zu läuten, so laut, und als ich nach oben schaue, sehe ich die große Glocke, wie sie sich um die eigene Achse dreht und dadurch ein zweifacher Gong entsteht. Habe das gefilmt, leider wieder hochkant, was stimmt nicht mit mir? Ich schaue zu viel Instagram Reels.

Iglesia de Santa María del Camino

Eine ganze Weile laufe ich mit meinem halb in Papier eingewickeltem Brot und den zwei Pfirsichen in der Hand durch die Gegend, bevor ich mich in mein Bett lege und es mir mit meinem Handy gemütlich mache. Ich bin die einzige im Schlafsaal in dem Moment, alle anderen sind entweder in der Pilgermesse oder sonst wo. Schon wieder fühle ich mich, als mache ich alles anders, als die anderen.
Nach kurzer Zeit kommt ein Italiener auf mich zu und fragt, ob ich Lust hätte auf Pasta, sie hätten Pasta gekocht und es wäre noch genug übrig. Tatsächlich gehe ich mit in den Garten, der gleich an der Küche grenzt. Eigentlich bin ich satt, aber es ist die Geste und der Gedanke etwas ganz besonderes verpassen zu können, sollte ich es nicht tun.
Die Pasta schmeckt wirklich super, mit Tomatensauce, Oliven und Kapern. Viel Konversation gibt es allerdings nicht, eigentlich gar keine, die Italiener sind eher unter sich, und ich habe heute nicht die Kraft das zu ändern. Ich esse schnell auf, spüle meinen Teller ab und gehe zurück ins Bett. Seltsam, selbst der Garten dieser Herberge hat mich depressiv gestimmt, und ich bin beruhigt morgen von hier weg zu kommen.

Strecke: 25,3 km / Schritte: 39570

Geradeaus, geradeaus ,geradeaus…

Ich freue mich über ein paar Worte