Tag 17, 24. Juni 2023
Um fünf Uhr klingelt der Wecker, ich bin gerade mitten in einem Traum. Ich war dabei meine Fahrradschläuche aufzupumpen, aber irgendwie hat das nicht geklappt. Seltsamer Traum.
Habe alles sehr schnell zusammen gepackt heute morgen, aber jetzt ist mein Rucksack fast wieder so schwer, wie ganz am Anfang. Die neuen Sandalen wiegen eindeutig mehr als meine alten, außerdem trage ich jetzt wieder einen Schlafsack mit mir anstatt eines Baumwollsacks. Noch dazu einen halben Liter Wasser extra und eine Nektarine.
Gerne würde ich heute bis nach Honduras kommen, das sind dreißig Kilometer. Damit hätte ich dann schon einen Teil der Meseta hinter mir, einer von vielen Pilgern gefürchteten Hochebene, die sich über Hunderte von Kilometern erstreckt. Aufgrund der dünnen Besiedlung und der begrenzten Infrastruktur fühlen sich einige Pilger isoliert und einsam und empfinden die Meseta als den schlimmsten Teil des Jakobsweg. Insbesondere im Sommer kann es extrem heiß werden, was obendrein eine große physische Belastung darstellen kann.
In meiner Camino App steht folgender Text:

Hier beginnt der beste Teil
“Die endlosen Kilometer zwischen den einzelnen Orten sorgen für enge Freundschaften zwischen Pilgern, Gelegenheiten zu einer Romanze (wenn man dafür offen ist), die Möglichkeit, sein Leben zu durchleuchten und neu zu überdenken und mit etwas Glück dafür, sich selbst und Gott (wiederum gilt dies für Pilger, die mit dieser Absicht kommen) zu finden.
Ab Rabé de las Calzadas gibt es fast keinen Schatten. Vorsicht im Sommer in den Mittagsstunden. Von hier bis Hontanas gibt es kaum Trinkbrunnen, daher sollte man seine Trinkflasche füllen.
Manche Pilger entziehen sich diesen Etappen durch die Fahrt mit dem Bus. Davon raten wir unbedingt ab. Buen Camino!”
Bus? Niemals! Und wenn ich auf Brustwarzen nach Santiago krieche!
Erst nach zehn Kilometern erreiche ich das nächste Dorf und sehe auch den ersten mit Pilger. Und erst hier bekomme ich meinen lang ersehnten Milchkaffee in einer Bar, in der sämtliche Einheimische sitzen und Congnac trinken. Kann man ja machen um acht Uhr morgens. Zum Essen gibt es hier nichts außer ein abgestandenes Croissant unter einer Käseglocke und ein paar Oliven. Zum Glück habe ich noch einen Pfirsich, ein paar Kekse und Käse.
Als ich gerade weiter gehe, sehe ich Kirchenschläfer Vadim, und direkt danach Angela. Sie möchte allerdings auch erst mal in diese Bar einkehren und einen Kaffee trinken, also mache ich mich alleine auf den Weg. Will ich ja sowieso. Auch Vadim läuft lieber alleine, wie er sagt. Heute Nacht wird er wieder draußen schlafen, denn das Wetter soll trocken bleiben. Ich möchte das auch.
Zunächst führt der Weg viel über Autobahnbrücken und durch Tunnel hindurch, aber dann wird es plötzlich wunderschön. Ich bin umgeben von Kornfeldern, und es gibt tatsächlich nur wenig Schatten. Landschaftlich gesehen ist das jetzt hier für mich eine der schönsten Etappen. Von mir aus kann es gerne so weitergehen, ich mag diese Weite sehr!
Wenn ich mir mein Camino Mosaik jetzt anschaue, enthält es viel mehr bunte Steine, als die überwiegend grauen am Anfang. Ich bin jetzt mitten drin und beginne den Jakobsweg mit anderen Augen zu sehen und Gefallen an ihm zu finden.
Um elf Uhr erreiche ich schon Hornillos del Camino. Mein Plan ist hier ein paar Stunden zu verweilen, um der Mittagshitze aus dem Weg zu gehen, und dann am späten Nachmittag noch mal zehn Kilometer weiter zu wandern. Und irgendwo da, wo ich dann raus komme, möchte ich mir einen schönen Platz zum schlafen suchen.
Am Dorfplatz stehen neben einem Brunnen ein paar Tische und Stühle, die zu einer Bar gehören. Die meisten Schattenplätze sind besetzt, somit setze ich mich auf meine zusammengeklappte Isomatte in den Schatten an eine Hauswand. Ich kaufe mir einen Kaffee und ein Stück Kuchen in der Bar nebenan und spendiere einem Franzosen zwei Euro, damit er sich einen Kaffee kaufen kann. Meine gute Tat für heute.
Vadim verweilt an der Dorfkirche, kommt dann irgendwann zu mir und schenkt mir einen goldfarbenen Pilgermuschel-Anhänger. Ich bin völlig baff und freue mich wahnsinnig. Insbesondere weil sie von Vadim ist. Manchmal glaube ich, er ist ein von Gott gesandter Heiliger. Oder ein Engel, oder sowas.
Ich habe noch ein Stück Lederband in meiner Sammelsurium Tupperdose, das ich dazu benutze mir eine Halskette zu basteln. Ab jetzt schmückt Vadims Muschelanhänger meinen Hals.
Habe den Dorfplatz auf Google Street View gefunden. Bitte hier klicken.
Ich sitze noch eine ganze Weile auf dem Marktplatz herum, da kommen Flo und Julia um die Ecke, um sich die Kirche anzusehen. Sie sind in einer Herberge am Ortseingang untergekommen und fragen mich, ob ich nicht mitkommen möchte, dort könne man auch essen. Da es noch früh ist, gehe ich mit.
Flo und Julia sind übrigens heute Morgen aus Burgos mit dem Taxi angereist, da Julia Probleme mit ihren Füßen hat. Mittlerweile hat sie auch neue Schuhe. Ich glaube, Schuhläden am Camino machen gute Geschäfte.
Nach dem Kuchen auf dem Dorfplatz habe ich eigentlich gar keinen Hunger, aber Flo besteht darauf, daß ich was esse und gibt mir ein Stück von seiner Pizza ab.
Ich lerne Birgit und Andreas kennen, zwei Deutsche in meinem Alter, die aber nichts miteinander zu tun haben. Birgit erzählt mir schnell ihre ganze Leidensgeschichte, von wegen keinen Kontakt mehr zu ihrer Schwester, schwieriges Verhältnis zu ihrer Mutter, und so weiter. Und Andreas scheint auch irgendwas ganz heftiges mit seinem Vater zu haben, jedenfalls ist er sehr aufgewühlt, wenn es um sein Vater geht und sagt, daß er schon viel geweint hat auf dem Weg. Gestern wollte er aufgeben und hatte bereits seinen Flug nach Hause gebucht, weil er dachte, er hält den Camino nicht mehr aus. Er war schon auf dem Weg zum Flughafen, als er sich aber dann doch fürs Weitergehen entschied und den Taxifahrer bat umzukehren.
Andreas ist auch einer derjenigen, der sich in Herbergen und Hotels ein Privatzimmer nimmt. Er bietet mir an zurück zu kommen, sollte ich später keinen Platz zum Zelten finden. Ich solle dann einfach ein Steinchen ans Fenster werfen, er würde mich dann rein lassen. Süß, aber nein danke.
Ich sitze einige Stunden dort, es ist eine nette Runde.
Flo ist am Nachmittag bereits ziemlich betrunken und baggert wie verrückt an Birgit herum. Die bleibt aber cool und schickt Flo souverän ins Bett.
So gerne ich auch geblieben wäre um zu erfahren wie es weiter geht mit Flo und ob er nochmal wach wird heute, mache ich mich dennoch auf den Weg weiter hinein in die Meseta.
Wie dumm ich bin. In der absolut späten Nachmittagshitze, die natürlich heißer ist als die Mittagshitze, was ich eigentlich auch weiß, latsche ich los. Es sind zweiunddreißig Grad im Schatten, von dem hier aber keiner mehr ist. Noch dazu laufe ich der Sonne direkt entgegen, es ist der totale Wahnsinn. Niemals finde ich in dieser Einöde zwischen all den Kornfeldern einen Platz zum Zelten, der im Schatten liegt, denn wie gesagt, hier gibt’s keinen. Hin und wieder steht ein kleiner Baum am Wegesrand, in dessen Mini-Schatten ich kurz stehenbleibe und ausschnaufe. Einmal kommt ein Maisfeld, aber der Mais ist gerade mal vierzig Zentimeter hoch. Ich überlege einen Moment mich auf den Boden zwischen die kleinen Pflänzchen zu legen, aber was dann? Soll ich dann bis heute Abend da liegen bleiben?
Oh, warum nur bin ich aus Hornillos del Camino weg gegangen? Ich könnte da jetzt in netter Gesellschaft sitzen, ein kühles Bier trinken und danach in einem weichen Bett schlafen.
Es sind zehn Kilometer bis nach Honduras.
Etwa zwei Kilometer vor dem Ort finde ich eine schöne flache Ebene direkt neben dem Weg. Hier bleibe ich, denn drei kleine Bäume werfen drei winzige Schatten auf die Wiese. Ich setze mich auf einen dieser kleinen Fleckchen Schatten und wandere mit ihm und der untergehenden Sonne, so lange, bis es an der Zeit ist mein Zelt aufzubauen. Ich beschließe das Außenzelt weg zu lassen, so ist es kühler, und ich kann beim Einschlafen in die Sterne schauen.
Als dann endlich die Sonne untergeht, sinkt auch die Temperatur und ich krieche erschöpft in mein Zelt.
Und ja, natürlich wäre es wesentlich entspannter gewesen in Hornadillo del Camino zu bleiben und ein richtiges Bett zu haben, aber wenn man sich traut mit seinem Zelt so zu schlafen, wie ich es gerade tue, ist das schon eine tolle Erfahrung und ein Geschenk das so zu erleben.
Strecke: 30,1 km / Schritte: 45350