Carrión de los Condes – Terradillos de los Templarios

Tag 20, 27. Juni 2023

Und wenn sie nicht gestorben sind, dann kramen sie noch heute. Es ist nicht zu fassen, Geknister hier, Geraschel da, einen Wecker brauche ich nicht. Ich hingegen habe bei dem kleinsten Geräusch, das ich mache, schon ein schlechtes Gewissen, komme dadurch aber auch so gut wie gar nicht voran, weil bei mir alles in Zeitlupe abläuft. Das perfekte Vorgehen wäre eigentlich am Abend zuvor alles zu packen und am nächsten Morgen alles andere, was man für die Nacht benötigt hat, nach draußen zu tragen und dort zu Ende zu packen. Heute morgen dauert es bei mir eine ganze halbe Stunde, bis ich fertig bin.
Als ich den Rucksack endlich aus dem Schlafraum raus habe, putze ich meine Zähne und verlasse die Herberge durch die Garage, denn die Eingangstür bleibt bis halb sieben verschlossen. 

Ich liebe den Moment wenn ich morgens los gehe. Die Luft ist dann so frisch, die Temperaturen sind angenehm, und nichts tut mir weh. Es wird gerade hell, und sofort beginnen die Spatzen munter drauf los zu zwitschern. Sie zwitschern ununterbrochen, so lange, bis es abends wieder dunkel wird. Ich frage mich, was die sich den ganzen Tag erzählen. 
Heute stehen siebzehn Kilometer durch die Meseta ohne Schatten und Wasserquelle an, und das ohne Frühstück. Und da zeigt sich wieder, wie wichtig es ist zumindest ein paar Kekse im Gepäck zu haben. Wenn ich doch nur einen Kaffee haben könnte! Dieser unersättliche Wunsch nach Kaffee läßt mich zunächst an eine Illusion glauben, als nach acht Kilometern am Rande eines Feldes eine Art Food Truck steht, so richtig mit Tischen und Stühlen davor. Ein junger Typ, der so aussieht wie Menderes, hat sich hier ein Business aufgebaut und versorgt die Pilger mit allerlei Leckereien und natürlich Kaffee! Die wenigsten Pilger laufen hier vorbei ohne bei ihm einzukehren. Als kleines Extra bekommt jeder mit seiner Bestellung einen Shot frisch gepressten Orangensaft. Menderes scheint sein ganzes Herzblut in diesen Truck gesteckt zu haben, er bedient seine Kundschaft mit Hingabe und versucht mehrere Bestellungen auf einmal aufzunehmen, damit keiner lange warten muß. Dadurch kommt er etwas durcheinander, aber er entschuldigt sich aufrichtig, und keiner nimmt es ihm übel. 

Frisch gestärkt mit einem Toast mit Schinken, Käse und Ei und meinen beiden Lebensrettern Milchkaffee und Aquarius mache ich mich weiter auf den Geradeaus-Weg. Nach gewisser Zeit wechsele ich wieder von meinen Schuhen zu den Sandalen, durchquere das erste Dorf auf dem Weg, Calzadilla de la Cueza und gehe weiter immer nur geradeaus, bis ich nach dreiundzwanzig Kilometern nach Ledigos komme. Keine Menschenseele ist hier zu sehen, auch keine Wanderer.
Vor einer Herberge steht ein kleiner Grill mit noch heißer Holzkohle, er qualmt gelangweilt vor sich hin. Ich gehe hinein und frage an der Theke der Bar nach etwas zu Essen, woraufhin der Wirt auf ein paar frisch gegrillte Fleischspieße unter einer Lebensmittelglocke deutet. Sie sehen lecker aus, also kaufe ich einen Spieß, bestelle dazu einen Salat und ein großes Bier. Ich nutze den Moment mein Handy aufzuladen und gönne mir als Nachtisch noch ein Eis aus der Truhe. 
Wieder vermisse ich andere Pilger und frage mich, wo all die Leute geblieben sind, die ich unterwegs getroffen habe. Wie gerne würde ich das ein oder andere vertraute Gesicht sehen, jemanden, mit dem ich ein paar Worte wechseln kann. Da kommt ausgerechnet der schnarchende Faulzahn Nicola zur Tür rein, der außer yes und no nichts auf Englisch sagen kann und ich nichts außer und no auf Italienisch. Sein französisches Harem ist nicht dabei, er ist ganz allein und begrüßt mich mit Küsschen links und rechts. Sein T-Shirt ist nass geschwitzt, und ich ekel mich. 
»All good?« frage ich und strecke meinen Daumen nach oben.
»Yes«, sagt Nicola, streckt auch seinen Daumen nach oben und deutet fragend auf mich.
»Sì«, sage ich.

In jedem Fall möchte ich heute Nacht wieder im Zelt schlafen, denn das Wetter soll gut werden. Muss nur einen geeigneten Platz finden und eventuell einen Supermarkt, wo ich mir etwas zu essen für heute Abend kaufen kann. Ich beschließe bis ins drei Kilometer entfernte Terradillos de los Templarios zu gehen, wo ich auch direkt die Dorfwiese finde, die sich perfekt als Zeltplatz anbietet, denn es gibt hier einen Brunnen. Eine Ritter Statue thront am Rand der Wiese, gebaut aus sämtlichen mechanischen Teilen wie Nägeln, Metallstäben, Zahnrädern und Ketten. Das nach den Tempelrittern benannte Dorf war eine Hochburg des Militärordens. Ihr Hauptziel bestand darin, die Pilger auf dem Jakobsweg zu schützen.
Ein Stückchen weiter ist eine Herberge mit einem kleinen Gartencafé, in dem ich mir ein Bier kaufe, einen Apfel und eine Art Blätterteiggebäck mit Pudding aus der Auslage. Das wird mein Abendessen sein, denn einen Supermarkt gibt es hier nicht. 
Als ich da so im Garten sitze und meine Oliven schnabbuliere, die mir zum Bier gereicht wurden, humpelt ein Mann auf mich zu, den ich schon ein paar mal von hinten gesehen habe, wie er schmerzvoll mit kleinen schnellen Schritten voran eilt und dabei komisch mit den Armen wedelt. Ich spreche ihn auf Englisch an, daß es schmerzhaft aussieht, wie er läuft. Er antwortet mir auf Deutsch, denn so wie ich ihn schon oft gesehen habe, bin ich ihm auch aufgefallen mit meiner kleinen Deutschland Flagge am Rucksack. Manfred ist sechsundsiebzig und den Jakobsweg schon auf diversen Routen gegangen, wie er mir erzählt. Seine Füße sehen fürchterlich aus, überall Blasen und aufgescheuerte Haut mit lauter Pflastern und irgendeiner roten Tinktur eingepinselt. Er meint, nach etwa fünf Wochen auf dem Weg hört es auf weh zu tun, gerade dann, wenn man am Ziel ankommt.
Manfred läuft zusammen mit einer jungen Tschechin namens Maria, die er auf dem Weg kennen gelernt hat. Er sagt, ohne sie sei er verloren, sie sage ihm immer wo es lang ging und wann es Zeit sei aufzubrechen. Ich frage mich, ob Maria das überhaupt will und ob er ihr nicht auf Dauer lästig ist, denn ich erlebe sie als eher ruhig und froh mal nicht reden zu müssen. Manfred ist sehr nett, aber auch etwas anstrengend. Er kommt immer wieder auf wirtschaftliche und politische Themen zu sprechen, das ist ja so gar nicht mein Ding.
Ich sitze ein paar Stunden mit Manfred und Maria im Garten, habe aber irgendwann keine Lust mehr und begebe mich zur Dorfwiese, wo ich mich auf meiner Isomatte etwas hinlegen und auf den Sonnenuntergang warten möchte.
Irgendwie blöd, bis zum Sonnenuntergang sind es noch vier Stunden, was mache ich hier so lange? Einfach nur rum liegen? 
Diese Dorfwiese ist nicht besonders spektakulär. Neben meinem eisernen Beschützer, der Ritterstatue, ist da noch ein kleiner Brunnen, und etwas weiter hinten ist ein Tisch mit einer Bank zum Verweilen. Nebenan verläuft die kleine Dorfstraße. Hinter ein paar Koniferen steht ein Luxusanwesen, und hinter einer Hecke auf der anderen Seite ist eine Art Scheune auf einer Anhöhe, in der etliche landwirtschaftliche Geräte stehen. Genau aus dieser Hecke kommen zwei Katzen mit ihren Jungen heraus, mit denen ich mein Brot teilen möchte, aber sie mögen es nicht. Verständlich, mir schmeckt es auch nicht.

Mir ist langweilig. Ich fülle meine faltbare Schüssel mit Wasser und mache Fußpflege. Ich erinnere mich wie der Franzose, der in Villatuerta neben mir gezeltet hatte mich fragte, ob ich jeden Tag meine Füße waschen würde, denn das helfe gegen zu große Schmerzen. Ich frage mich, ob da was Wahres dran ist, zumal ich ja fast jeden Tag dusche, und trotzdem tun sie mir weh. Wie auch immer, ich löse sämtliche Blasenpflaster, dabei fällt die alte Haut einer Blase von meinem kleinen Zeh ab, weil sich darunter schon neue Haut gebildet hat. Prima, eine Baustelle am Fuß weniger. Jetzt muss ich nur noch die rechte Ferse in den Griff kriegen, und die linke auch einigermaßen im Zaum halten. Das Fußbad tut gut. Das kalte Wasser läßt meine armen geschwollenen Füße wieder in ihre ursprüngliche Form zurückkehren, wenigstens ansatzweise. Dann mache ich alles schön sauber, lasse meine Füße gut trocknen, klebe normales Hansaplast auf die noch fiesen Stellen und ziehe frische Socken an. Eine Wohltat! In dem Seifenwasser wasche ich auch gleich meine alten Socken, die können dann morgen am Rucksack trocknen. Soviel zum Thema.
Wie langweilig mir ist. Jetzt sitze ich hier blöd auf dieser Wiese rum. Wo sind denn überhaupt die Katzen hingelaufen? Und ob ich mein Zelt später hier aufschlage oder lieber da hinten neben dem Tisch und der Bank? Im Augenblick sitze ich noch am Brunnen, denn hier ist der einzige Schatten auf der Wiese.
Als die Sonne endlich tief genug steht, ziehe ich tatsächlich um zur Bank, denn da bin ich etwas weiter abseits. Ich würde gerne jetzt mein Zelt aufbauen, aber vorhin ist ein Jeep gekommen, der jetzt mit laufendem Motor schräg gegenüber auf Höhe der Herberge parkt, und so lange der da ist, möchte ich nicht anfangen. Warum fährt der nicht endlich weg? Ich beschließe zumindest schon mal das Gestänge zusammen zu stecken, den Rest baue ich dann auf, wenn das Fahrzeug weg gefahren ist. Ich habe das Gestänge gerade fertig, es liegt flach auf dem Boden, da läuft ein Mann auf mich zu. Ich halte die Luft an, grüße freundlich und warte was passiert. Er stolpert fast über meine Zeltstangen, sagt aber nur kurz »oh«, lächelt und geht weiter in Richtung eines Zauns in der Ecke der Dorfwiese, wo ein paar Stufen hinauf zur Scheune mit den Traktoren führen. Oh man. Ich bleibe auf der Bank sitzen und mache erst mal gar nichts. Nach einer Weile kommt er zurück mit dem kleinen Katzenbaby in der Hand. Er verschwindet in Richtung des immer noch laufenden Jeeps und kommt nicht wieder. Nach zwanzig Minuten habe ich keine Lust mehr zu warten, ich möchte doch bald mal schlafen gehen.
Es ist zum Verrückt werden, aber ich habe das Zelt gerade aufgebaut, da kommt der Mann mit dem Katzenbaby zurück. Ich spiele die Unschuld vom Lande, lächle ihn breit an um zu signalisieren, schau, ich bin doch ganz nett, und erfreue mich sichtlich am Anblick des Katzenbabys. Der Mann lächelt wieder zurück, sieht auch das Zelt, sagt aber nichts. Auch nicht, als er ohne die kleine Katze bald zurück kommt und schließlich mit dem Jeep davon fährt. Puh, da habe ich Glück gehabt. Hätte auch anders ausgehen können. 

Mein Zelt von innen

Ich krieche in mein Zelt und merke schnell, dass die Wiese unter mir total uneben ist. Ich habe einen Hügel unter dem Rücken. Ich wechsle die Seite, aber auch am Fußende ist es nicht besser. Und dann ist da noch der große Hund hinter dem Zaun, der die Traktoren bewacht. Er bellt laut und tief, sobald sich etwas bewegt, das er nicht kennt. Als ich nachts raus muss, bewege ich mich in Zeitlupe, weil ich Angst habe, dass er mich sieht und ausflippt. Und überhaupt, irgendwie habe ich heute viel weniger in meinem Kopfkissen, wahrscheinlich, weil ich das meiste jetzt anhabe. Bequem ist anders, und kalt ist es auch.

Strecke: 26,1 km / Schritte: 42108

Wenn ich mir den Clip heute anschaue, weiß ich nicht, was ich bei diesem ewigen Geradeaus überhaupt gedacht habe. Ist es möglich gar nichts zu denken, um etwas regelrecht auszublenden? Seltsam.

Ich freue mich über ein paar Worte