Tag 9, 16. Juni 2023
Um halb fünf stehe ich auf und warte auf die Dämmerung. Vor dem Schlafengehen gestern habe ich mir nochmal ein paar Kohletabletten gegönnt, und heute Morgen auch nochmal, seitdem habe ich Ruhe.
Am Stadtrand von Estella, leider habe ich ja nun gar nichts von der Stadt gesehen, steigt mir ein intensiver Bäckereiduft in die Nase. Man sollte es nicht für möglich halten, aber ich kaufe mir Brot! Der Bäcker hat ganz frisches Baguette, es ist noch warm. Davon kaufe ich eine halbe Stange, und ich finde es noch nichtmal ekelig. Das Laufen fällt mir auch erstaunlich leicht, ich glaube, es geht aufwärts.
Es ist immer noch nicht ganz hell, und ich sehe keine anderen Pilger weit und breit. Die Luft ist so herrlich frisch, und die Vögel singen in Dolby Surround, es hallt regelrecht von allen Seiten. Und wie schön die Landschaft ist, sie schimmert pastellfarben in der aufgehenden Sonne. Ich fühle mich fast so als wäre ich high. High von den Gerüchen, Geräuschen und der Landschaft. Ich schwöre, es waren wirklich nur Kohletabletten! Es kommt mir heute bestimmt alles nur so intensiv vor, weil es mir in den letzten zwei Tagen so beschissen ging. Davon abgesehen ist es aber doch wirklich was ganz besonderes auf schönen Fußwegen an Weinstöcken vorbei zu laufen, wo alles so frisch nach Kräutern und Blumen duftet und dabei von Nachtigallen begleitet zu werden, oder etwa nicht?
Den berühmten Weinbrunnen kurz hinter Estella übersehe ich heute morgen. Die Idee des Brunnens hatte 1991 die Weinkellerei Bodegas Irache, ein ehemaliges Klosterweingut. Der durstige Pilger kann sich an einem aus der Wand kommenden Hahn etwas Wein zapfen. Mal abgesehen von der Tageszeit hätte ich jetzt aber eh keine Lust auf Wein.
Stattdessen mampfe ich eine Banane und knabbere an meinem frischen Baguette. Mein Bauch fühlt sich gut an, ich glaube, das bleibt jetzt drin. Das einzige was mir heute noch zu schaffen macht ist mein Gesäßmuskel, aber das ist ja nichts neues. Ansonsten geht es mir gut, und auch die Hitze macht mir wenig aus. Trotzdem möchte ich heute erst mal wieder in einer Herberge schlafen, für den Fall, dass ich doch wieder ein Klo brauche. In Zukunft muss ich vorsichtiger sein und werde Brunnenwasser grundsätzlich mit Micropur Tabletten entkeimen. Zwar glaube ich nicht, dass das Brunnenwasser Schuld war an meiner Misere, denn sonst wären alle um mich herum ja auch krank, aber trotzdem. Und Obst werde ich auch sorgfältig abwaschen.
Viel zu früh, nämlich um zwanzig nach elf bin ich schon in Los Arcos, meinem heutigen Etappenziel. Niemals hätte ich gestern gedacht, dass ich heute zwanzig Kilometer schaffen werde. Meine ausgesuchte Herberge La Fuente Casa de Austria ist noch geschlossen, deshalb setze ich mich auf den Boden an die Hauswand gegenüber, wo ich mein Baguette aufesse und noch ein paar Kohletabletten oben drauf.
Ich bin heute die erste und habe freie Bettenwahl. Ohne Frage nehme ich ein unteres Bett, gemütlich in einer Ecke. Blaue Gummimatratzen schützen vor Viehzeug wie Bettwanzen, dazu gibt es die obligatorischen Papierlaken sowie ein Papierbezug für das Kopfkissen. Mein Schlafsack ist meine Zudecke.
Die Herberge ist total verspielt und bunt eingerichtet aus einem Sammelsurium alter Sachen und Möbeln. Es ist schrullig schön mit mehreren kleinen Terrassen in verschiedenen Ecken, Treppen, Seiteneingängen, einem Garten mit Waschmöglichkeit und einer Sitzgruppe, Massageecke und einer Küche. Genauer hinsehen darf ich nicht, sonst sehe ich all das Schmuddelige, insbesondere in der Küche. Einige Pilger haben Sachen da gelassen, wie Nudeln oder Couscous. Im Kühlschrank sind auch ein paar Lebensmittel zu finden, von denen ich aber nicht weiß wie alt sie sind oder ob sie jemandem gehören.
Ich sitze gerade in einem Sessel nahe der Rezeption, als ich deutsche Stimmen höre. Es sind Florian aus der Schweiz, genannt Flo, und Julia aus Deutschland. Die beiden haben sich auf dem Weg getroffen und machen seitdem alles zusammen. Flo ist von zu Hause aus los gelaufen und hat bereits 1800 Kilometer hinter sich. Er trägt eine lange braune Wollrobe, schwere Stiefel und eine Lederweste, sowie fingerlose Handschuhe und einen Pilgerstab. Als er hört, dass ich mich gerade vom Kranksein erhole, wird er ganz einfühlsam und sagt, dass er genau weiß wie es mir ergangen sein muss und erzählt seine eigene Geschichte:
Flo lief gerade in Frankreich in einer Gegend, wo kaum Menschen waren. Seit Tagen hat er niemanden gesehen. Dann trank er Wasser aus einer Regenrinne und wurde so krank, daß er nach endlosem sich Übergeben und Durchfall mit vierzig Fieber im Delirium nicht mehr aufrecht stehen konnte und regelrecht auf dem Boden kroch. Zuvor hatte er erfolglos versucht ein Taxi anzurufen oder sonst irgendwie Hilfe zu bekommen, als plötzlich aus dem Nichts ein anderer Pilger vorbei kommt und ihn findet. Dieser Pilger ist glücklicherweise auch noch Schweizer und schleppt Flo bis zur nächsten Straße, wo sie tatsächlich ein Taxi finden!
Für Flo war das ein wahres Camino Wunder. Er verbrachte daraufhin ein paar Tage im Krankenhaus, wo er mit ein paar Infusionen wieder hergestellt wurde.
Julias Geschichte ist ähnlich skurril, denn sie war vor zwei Wochen noch im Krankenhaus in Indien, nachdem sie dort einen Motorradunfall hatte. Sie erzählt, dass sie nie mit Helm gefahren ist, was ja auch keine Pflicht ist in Indien, aber just an dem Tag, als sie mit fünfzig Kilometern pro Stunde eine Bodenwelle übersah und stürzte, hatte sie einen auf. Dank des Helms kam sie mit einem Hirntrauma, Verbrennungen und einer gebrochenen Schulter davon. Ihr wurde daraufhin eine Metallplatte eingesetzt, die Wunde ist jetzt immer noch nicht ganz verheilt. Trotzdem ist sie jetzt hier und trägt einen Rucksack. Total irre.
Flo und Julia sind nett, und ich freue mich über deren Anwesenheit. Zusammen sitzen wir draußen mit ein paar anderen Leuten, hauptsächlich jungen Pilgern aus England, Amerika und Australien. Aber mir ist es zu warm, und so ganz komme ich nicht klar mit der Menge an Leuten. Andauern raucht einer, ich werde von alles Seiten zugequalmt. Mein Bier schmeckt mir auch nicht, ich schütte es weg. Flo redet sehr laut und mit einem extrem übertriebenen amerikanischen Akzent, so dass ich mich erst mal in die Küche verziehe, wo ich meine Ruhe habe und mir Nudeln kochen möchte. Ich kann mir vorstellen, dass die meinem Bauch gut bekommen.
In der Küche fehlt der Wasserhahn, nur das Rohr guckt aus der Wand mit der Öffnung nach oben. Das Wasser sprudelt also aufwärts, wie ein Brunnen, ich muss es sozusagen auffangen. Eine Sauce oder Ketchup habe ich nicht gefunden, dafür aber Senf. Ich esse also Nudeln mit Senf und bin überrascht, wie gut das schmeckt.
Julia und Flo fragen später, ob ich mit zum Essen kommen möchte. Würde ich gern, aber ich traue mich noch nicht wieder richtig zu essen, habe auch noch keinen Appetit. Nach meinen Senfnudeln sowieso nicht mehr, ich bin angenehm satt. Lediglich ein paar Kohletabletten passen noch rein, ich denke mir, es kann nicht schaden noch mal ein paar zu futtern, nur für alle Fälle. Wie blöd, denn ab jetzt werde ich ein ganz anderes Problem haben…
Im Bett schaue ich noch “Dein Weg” (“The Way”) mit Martin Sheen. In dem Film spielt Sheen einen Vater, der für seinen Sohn den Jakobsweg geht, nachdem dieser in den Pyrenäen tödlich verunglückt ist. Ein schöner Film, wenn auch ziemlich realitätsfremd. Niemand hier springt so leichtfüßig durch die Gegend, wie die Charaktere im Film. Überhaupt scheinen die da nie irgendwelche körperlichen Schmerzen zu haben, und in Wirklichkeit leidet hier jeder!
Strecke: 20,3 km / Schritte: 3068