Tag 27, 04. Juli 2023
Es ist noch nicht ganz hell, als ich schnellen Schrittes die einhundert Höhenmetermeter den Monte Irago rauf in Richtung des berühmten Cruz de Ferro eile. Ich friere und wünschte, ich hätte mich wärmer angezogen. Es sind nur elf Grad, aber der Wind lässt es kälter wirken. Frösche quaken, Nebelschwaden umhüllen die Berge, und es ist Vollmond. Wie gerne würde ich all das fotografieren, aber auf Fotos kommt diese gespenstisch schöne Atmosphäre überhaupt nicht zur Geltung.
In der Entfernung erkenne ich den langen Stiel des Cruz de Ferro. Dahinter steht tief der Vollmond, der wie ein großes Gesicht auf die Szene herab sieht. Um das Kreuz herum liegen tausende von Steinen, von Pilgern über Jahrhunderte niedergelegt. Sie werden in der Regel von zu Hause mitgebracht und symbolisieren die Sünden jedes einzelnen, wobei der original Steinhaufen aus der Römerzeit einige hundert Meter vom jetzigen Kreuz entfernt sein soll. Man sagt, der Stein soll die Größe haben, die der Schwere der Sünden entspricht. Ich habe auch einen Stein von zu Hause mitgebracht. Er ist relativ klein, aber hauptsächlich, weil ich nicht über Wochen so viel Gewicht mit mir rum schleppen wollte. Davon abgesehen finde ich es schwierig, Sünden in Form von Materie darzustellen.
Ich lege meinen Rucksack ab und krame meinen Stein aus den Tiefen des Hauptgepäckfachs. Ehrfürchtig nähere ich mich dem Kreuz und versuche krampfhaft irgendeine Energie zu spüren. So viele Menschen haben hier ihre Sorgen und Ängste symbolisch abgelegt, da muß doch was sein. Ein paar Pilger sowie Tagestouristen stehen auf und um den riesigen Steinhaufen herum, aus dem das Kreuz majestätisch heraus ragt. Ich bleibe in der Entfernung stehen und sehe mir die Leute an. Ein Pilger kniet vor dem Kreuz und betet. Andere stehen drum herum und haben wahrscheinlich die schwersten Gedanken. Wiederum jemand anders steht oben auf den Steinen und bewegt sich die ganze Zeit nicht, sondern starrt nur auf das Kreuz. Ich werde verrückt, es ist Angela! Ich bemerke, daß sie sehr emotional ist und warte, bis sie mich sieht. Plötzlich dreht sie ihren Kopf und schaut mich an. Sie hätte auch überall sonst hinsehen können, aber sie blickt direkt zu mir, als wenn sie gemerkt hat, daß ich da stehe. Ich lächele zu ihr hoch, und als sie mich erkennt, muss sie noch mehr weinen, kommt auf mich zu und fällt mir um den Hals. Wir halten uns eine ganze Weile fest, da werde ich auch emotional. Angela ist richtig in Tränen aufgelöst. Sie sagt, was für ein unglaublicher Moment das für ist, so oft hat sie an mich gedacht, und just in dem Moment an diesem Ort, als im Westen der Mond unter geht und zur selben Zeit im Osten die Sonne aufgeht, stehe ich plötzlich dort am Fuße des Steinhaufens.
Da war sie plötzlich, die Energie, die ich vorher versucht habe zu spüren.
Wir halten noch einen Moment inne, und ich lege meinen Stein ab. Dann machen wir uns gemeinsam auf den Weg ins nächste Dorf.
Andere Pilger, andere Geschichten
Angela erzählt mir eine Geschichte, die mich sehr geschockt hat, und die geht so:
In San Bol, mitten im Nirgendwo der Meseta, ist eine kleine einfache Herberge, in der Angela sich einquartiert hatte. Am Abend hört sie, wie die Herbergsleitung eine telefonische Buchung von Pilgern für die nächste Nacht annimmt. Da sie dessen Namen laut wiederholt, weiß Angela, daß es sich um zwei ihrer engsten Camino Freunde handelt, mit denen sie am Anfang viel zusammen war. Und weil es Angela an diesem Tag mental gar nicht gut geht und der Gedanke ihre Freunde morgen wiedersehen zu können sie aufheitert, beschließt sie einen Tag zu verlängern und bleibt am nächsten Morgen einfach in ihrem Bett liegen. Ich weiß, das geht nicht, darf man nicht, und das weiß auch Angela. Aber sie denkt, wenn sie eh hier bleibt, brauch auch niemand ihr Bett zu machen, sie würde es einfach behalten.
Gegen elf kommt eine Frau ins Zimmer und schreit Angela an, was sie denn dort täte. Die Frau spricht aber nur spanisch, so kann Angela ihr nicht erklären, daß sie eine Nacht länger bleiben möchte, weil es ihr nicht gut geht. Anhand von Gesten versucht sie zu erklären, daß sie krank ist, doch die Frau kriegt sich nicht ein und schreit weiter, bis sie schließlich jemanden anruft, der deutsch versteht und dem Angela erklären kann, daß sie wohl einen Sonnenstich hat, nichts brauchen würde und einfach nur im Bett liegen bleiben möchte. Davon ausgehend, die Situation sei nun geklärt, gibt sie das Telefon zurück und dreht sich um.
Irgendwann hört sie Stimmen und denkt, ihre Freunde sind angekommen, aber stattdessen kommen zwei Männer in den Schlafraum. Aus ihrer unteren Koje heraus erkennt sie die Männer nur bis zur Hälfte, und alles was sie da sieht sind Uniform und Pistolen.
Da hat die Frau doch tatsächlich die Polizei gerufen und das zwei Stunden, bevor die Herberge sowieso wieder aufmacht.
Die Polizei sagt zu Angela, sie könne nicht hier bleiben, und wenn sie krank sei, müsse sie in die Klinik. Mehrfach versucht Angela zu erklären, daß sie einfach nur etwas Ruhe und Schlaf brauch nach ihrem Sonnenstich, aber es nützt nichts, die Polizei und die Frau bleiben hartnäckig, so daß Angela irgendwann die Hutschnur reißt, ihre Sachen packt und sich draußen vor der Herberge unter einen Baum setzt.
Nur eine Stunde später kommen ihre Freunde an und checken ein, noch vor der eigentlichen Zeit. Als Angela jetzt nach anderthalb Stunden nach dem Vorfall wieder vor der Frau steht und auch wieder eincheckt, ist es dieser offenbar dann doch peinlich so ein Fass aufgemacht zu haben und erkundigt sich sogar nach Angelas Wohlbefinden.
Also ganz ehrlich, mich hätte das Ganze total aus der Bahn geworfen, ich wäre so schnell wie möglich von diesem Ort weg gegangen.
Dann erwähnt sie den Kirchenschläfer Vadim, mit dem Angela sich lange unterhalten hat. Sie hat ihn so verstanden, daß er aus Deutschland los gelaufen sei. Außer seinen Namen habe er angeblich nichts mehr, seinen russischen Vater und seine ukrainische Mutter habe er verloren, sowie seine Arbeit und sein zu Hause. In seinem Pilgerpass steht demnach keine Adresse, auch kein Nachname, nur Vadim. Und er sei ‚gerufen‘ worden, sagt er. Angeblich soll er nach Santiago de Compostela gehen, wer auch immer ihm das gesagt hat.
Was für eine Geschichte, wenn das alles stimmt. Wie gerne würde ich mehr über ihn erfahren und auch wissen, wie es für ihn weitergeht, nachdem er in Santiago angekommen ist.
El Acebo de San Miguel
Angela und ich gehen den Rest des Tages zusammen. Wir reden wahnsinnig viel, teilweise auch recht skurriles Zeug, und manchmal kann ich Angela nicht zu hundert Prozent folgen. Will ich auch gar nicht immer, weil ich nicht abgelenkt werden möchte von der Schönheit des Weges, hier hoch oben in den Montes de León. Wir bewegen uns knapp über der Wolkendecke, und überall duftet es nach diversen Kräutern.
Wir sind mittlerweile ziemlich hungrig, können uns aber irgendwie nur schlecht vorstellen hier in der Gegend etwas zum Essen zu finden. Das nächste Bergdorf El Acebo de San Miguel ist klitzeklein, sieht von oben allerdings malerisch aus. In der Ferne schimmern die Ausläufer der Stadt Ponferrada weiß in der noch tief stehenden Sonne, sie sehen fast aus wie Schneefelder.
Ich würde alles für eine Tasse Kaffee und was zum Essen geben, als wir den steilen Pfad nach El Acebo absteigen. Da steht doch, ich traue meinen Augen kaum, eine junge Frau am Ortseingang hinter einem Tisch und backt Pfannkuchen. Es duftet so unfassbar gut, mir läuft das Wasser im Mund zusammen. Und es gibt Kaffee! Ich glaube, ich bin im Himmel.
Zusammen mit einem Schweizer und einer Französin setzen Angela und ich uns auf die Terrasse des anliegenden Cafés und genießen ein köstliches Frühstück mit einer riesigen Tasse frischen Kaffee. Wir unterhalten uns großartig, die ganze Stimmung ist so schön hier in der wärmenden Sonne. Ich könnte ewig hier sitzen bleiben und hätte am liebsten noch einen Pfannkuchen verdrückt, aber dann wäre ich geplatzt.
Andreas ist angekommen und setzt sich am Ende der Terrasse an einen Tisch. Er hat mich scheinbar nicht gesehen, ich möchte jetzt aber auch nicht auf mich aufmerksam machen.
Kurze Zeit später sehe ich ihn dann an einem Tisch eines anderen Cafés schräg gegenüber sitzen, und ich werde das Gefühl nicht los, daß er mich irgendwann entdeckt und Reißaus von mir genommen hat. Ich gebe zu, es war wahrscheinlich etwas unhöflich von mir gestern Abend nach der Einladung zum Essen so schnell vom Tisch aufzustehen und schlafen zu gehen, obwohl er noch da saß. Aber nunja.
Ich komme nicht drum herum wenigstens hallo zu sagen, als ich auf meinem Weg zur Toilette an ihm vorbei muss. Er scheint gar nicht überrascht mich zu sehen, also liege ich mit meiner Vermutung wohl gar nicht so verkehrt.
»War das vielleicht wieder ein steiler Abstieg«, sagt er und schüttelt empört mit dem Kopf.
Nein, sowas brauche ich nicht auf dem Camino, und erst recht nicht an einem solch schönen Tag.
Angela und ich verabreden uns zum Abendessen in Ponferrada und tauschen unsere Telefonnummern aus, dann mache ich mich weiter allein auf den Weg.
El Acebo ist ein schönes Bergdorf, dessen Häuser zum größten Teil aus Schiefer gebaut sind. Deren Holzbalkone ragen teilweise bis über die Straße hinaus, mich erinnert das an den Wilden Westen.
All diese Bergdörfer haben es mir angetan, ich möchte am liebsten in jedem einzelnen eine Nacht bleiben. Deshalb gruselt es mich ein bisschen vor Ponferrada, denn die Stadt hat fünfundsechzigtausend Einwohner und ist demnach alles andere als klein.
Noch dazu kommt der Gedanke, daß es jetzt bald auf die Einhundert-Kilometer-Marke zugeht. Nicht nur ist mein Abenteuer dann bald zu Ende, es wird auch kommerzieller und überlaufen von Kurzzeitpilgern mit etlichen Herbergen und Hotels entlang des Weges. Die letzten einhundert Kilometer ab Sarria sind nämlich die Mindestlaufstrecke, um die Compostela in Santiago zu erhalten. Diese Möglichkeit wird selbstverständlich von vielen genutzt, denn mit An- und Abreise kann man das locker in einer Woche schaffen.
In Riego de Ambrós gelange ich an eine Stelle, an der ein Einwohner mich warnt, daß man ab jetzt sehr trittsicher sein muss, wenn man den offiziellen Weg weiter gehen möchte.
Eine etwa achtzigjährige Pilgerin steht an derselben Wegführung, und ich frage mich, was gewesen wäre, wenn der Einwohner nicht aus dem Nichts aufgetaucht wäre. Dieser nämlich rät der Frau den Weg über die Straße zu nehmen und führt sie in die richtige Richtung.
Tja, ein weiteres Camino Wunder, zumindest für die alte Dame.
Der Maulbeerbaum
Kurz vor Molinaseca ist Angela plötzlich wieder hinter mir. Sie hat für eine ganze Weile in einer Kapelle gesessen, und in der Zeit habe ich sie offenbar überholt.
Gemeinsam erreichen wir das Dorf, als wir an einem Maulbeerbaum vorbei kommen, der hinter einem Geländer an einem Abhang steht.
Also, ich bin manchmal schon bescheuert, aber Angela übertrifft mich bei weitem. Sie klettert über das Geländer und den Maulbeerbaum hoch, um an die Früchte zu kommen. Wie ein Affe hängt sie mit ihren sechzig Jahren in diesem Baum, und als sie wieder runter klettern will, verliert sie das Gleichgewicht und krallt sich an zwei Ästen fest, während ihre Füße versuchen im Unterholz Halt zu finden. Jetzt muß ich auch über die Brüstung klettern, um sie zu retten. Zum Glück fängt sie sich aber selber und bleibt unverletzt. Nur ist sie jetzt voller Maulbeersaft, und ich auch, weil ich ihr geholfen habe aus dem Gestrüpp raus zu kommen.
Wir haben richtig Spaß und teilen uns die süße Ausbeute, deren Saft uns übers Kinn und die Hände rinnt. Wir sehen aus, als hätten wir jemanden abgemurkst, als wir über die idyllische Brücke den Fluss Meruelo überqueren.
Direkt an der Brücke ist ein Restaurant und eine Wiese, über die man Zugang zum Fluß hat. Angela nutzt die Gelegenheit und geht baden, während ich einen Kaffee schlürfe und mich ausruhe. Sage und schreibe drei Stunden sitzen wir schließlich hier, essen zu Mittag und klönen rum.
Es sind noch sieben Kilometer bis Ponferrada, die wir gemeinsam gehen wollen.
Erst am späten Nachmittag brechen wir auf, ausgerechnet dann, wenn es am heißesten ist. Eigentlich dachte ich, ich hätte aus der Vergangenheit gelernt.
Die Hitze reflektiert vom aufgeheizten Betonboden, und es gibt keinen Schatten. Unglücklicherweise verpassen wir irgendwo eine Abzweigung und landen aus Versehen auf der Südroute, wodurch wir einen immensen Umweg zu unserer ausgewählten Herberge machen müssen.
Kurz vor Ponferrada kaufe ich mir in einer Apotheke ein Abführmittel, denn selbst natürliche Maßnahmen wie Backpflaumen und Wasser tun mir nichts.
Ponferrada
Maßlos erschöpft erreichen wir unsere Herberge.
Die Herbergsmutter gibt uns sofort Wasser zu trinken als wir ankommen und lässt uns im Schatten des Eingangs ausschnaufen bevor sie uns alles zeigt und erklärt. Sie ist wie eine Mutter zu uns, sagt, daß es um halb acht Abendbrot gibt und quartiert uns in ein helles Fünfbettzimmer ein, in dem noch alle Betten frei sind. Das Eckzimmer ist auf zwei Seiten komplett verglast, weiße Vorhänge lassen es groß und sauber wirken.
Es ist so angenehm, daß Angela und ich alleine hier sind, nur im Nachbarzimmer sind noch andere Pilger.
Schwer und bewegungsunfähig liege ich auf meinem Bett.
Aki, meine japanische treue Seele vom Anfang in Saint-Jean-Pied-de-Port schreibt mir, daß sie zwei Ruhetage in Villafranca del Bierzo einlegen wird, da sie eine ‚plantare Fasciitis‘ hat, also irgendwas am Fuß. Villafranca del Bierzo wäre tatsächlich mein Ziel für morgen, ich freue mich tierisch. Niemals hätte ich gedacht Aki einzuholen. Andrew vielleicht, aber nicht Aki.
Sie teilt mir mit, in welcher Herberge sie ist, und weil Angela nichts besseres vorhat, rufe ich in der Herberge an und reserviere für morgen zwei Betten für uns.
Ein Duft von Spaghetti Bolognese zieht durch den Flur, ich bekomme Hunger. Soll es nicht um halb acht Abendbrot geben?
Ich gehe runter und sehe einige Pilger an einem gedeckten Tisch sitzen, während die Herbergsmutter und der Herbergsvater in der Küche stehen und brutzeln. Als ich frage wie viel ein Abendessen kostet, schlägt die Herbergsmutter verzweifelt die Hände über den Kopf zusammen, und oh Jesses, es tut ihr so Leid, weil, wir hätten ihr vor fünf Uhr sagen müssen, daß wir auch was essen wollen.
Nun, das war nicht so ganz einfach, da wir erst um sechs Uhr hier angekommen sind.
Die beiden älteren Leute tun mir Leid, weil wir ihnen jetzt so Leid tun und sie anscheinend etwas zerstreut sind. So beteuere ich, daß es überhaupt nicht schlimm sei, so hungrig seien wir ja gar nicht. Sie überlegen dennoch und schlagen vor uns Linsen warm zu machen. Verlockend, aber ich glaube, Linsen hätten meinem Darm den Garaus gemacht, und da Angela ganz zufrieden mit ihrem Stück Käse und ihren Nüssen ist und ich auch noch ein paar Nüsse und sogar Kekse habe, bedanke ich mich recht herzlich für das nette Angebot und gehe zurück aufs Zimmer.
Es ist noch hell draußen, als wir selig einschlafen. Was für ein wunderschöner Tag das war.
Strecke: 27,6 km / Schritte: 40930