Tag 24, 01. Juli 2023
Was für ein Tag.
Ich merke zunächst gar nicht, wie dick die Luft im Schlafsaal ist, bis ich nachts zur Toilette muß und die Tür zum Flur öffne. Die mir entgegen strömende Frischluft sorgt sofort für Schnappatmung bei mir. Irgendwann werde ich noch ersticken auf dem Camino.
Völlig sauerstoffunterversorgt werde ich morgens erst wach, als Maria mir beim Packen mit ihrer Kopflampe direkt ins Gesicht scheint. Schlaftrunken stehe ich auf und scheitere am Chaos im Bad, denn da sind sage und schreibe gerade mal zwei Waschbecken und zwei Toiletten. Ich will nur weg hier und verlasse die Herberge gegen halb sieben ohne mich zu waschen.
Eine schmierige Bar
Kaffee. Wo gibt es bitte Kaffee?
Nach einer gefühlten Ewigkeit sehe ich auf der anderen Straßenseite eine Bar, in der Licht brennt. Es sieht wenig einladend aus, aber der Kaffeedurst ist größer als alles andere. Die Barfrau gibt mir zu verstehen, daß ich noch ein paar Minuten warten muß, bis die Kaffeemaschine soweit ist, aber ich dürfe gerne hier bleiben.
Wie stinkig es hier ist. An der Wand neben dem Klo stehen ein Spielautomat und ein alter Sessel, darauf ein umgedrehter Stuhl. Der Fernseher läuft, und die Barfrau schlurft in Badelatschen langsam umher, hält dabei eine nicht angezündete Zigarette in der Hand.
Als das Wasser heiß ist, bestelle ich einen großen Kaffee in der Hoffnung auf ein durchschlagendes Ereignis. Als nichts dergleichen passiert, bestelle ich noch einen zweiten und nutze die Zeit des Wartens damit ein Hotelzimmer in Santiago de Compostela für den vierzehnten Juli zu buchen. Ich habe ausgerechnet, daß ich an dem Tag dort ankommen müßte, sollte alles nach Plan laufen. Ich werde etwas wehmütig, und merke, daß ich eigentlich gar nicht möchte, daß das hier zu Ende geht. Aber noch sind es ja zwei Wochen.
Mist, jetzt hänge ich hier in dieser grauenhaften Bar herum, dabei geht mir gerade wertvolle Wanderzeit verloren. Aber ich muss endlich mal wieder auf die Toilette kommen!
Auch der zweite Kaffee liefert nicht wirklich das gewünschte Ergebnis, obwohl, eine Ziegenmutter wäre sicherlich stolz auf ihr Kitz.
Die Uhr
Ich verlasse die schmierige Bar und muß jetzt erst mal wieder Kilometer lang an einer Hauptstraße entlang. Für heute habe ich mir die südlich gelegene Alternativroute ausgesucht, sonst würde ich nämlich ständig wieder nur geradeaus gehen.
Kurz hinter Trabajo del Camino verlasse ich nach sechs Kilometern die laute Hauptstraße und bewege mich bergaufwärts in endlich wieder weniger frequentierte Gegend.
Etwas stimmt nicht. Da fehlt was. Oh Gott, meine Uhr! Meine teure Garmin Uhr fehlt! Ich habe sie in der Herberge am Bettgestell vergessen. Panik. Was nun? Den ganzen Weg zurück latschen? Im Moment fällt mir nichts anderes ein als das, zumindest muß ich erst mal wieder auf die Hauptstraße zurück, denn hier in der Knüste erreiche ich gar nichts.
Auf dem Weg zurück nach unten rufe ich in der Herberge an, aber die verstehen mich gar nicht und denken, ich möchte für heute Nacht ein Bett buchen. Ich winke wild mit den Armen, um ein Taxi zu bekommen, aber keines hält. Eine spanische Pilgerin versucht mir zu helfen, indem sie eine Taxizentrale anruft, aber die wollen natürlich wissen, wo wir sind, und das können wir nicht genau sagen. Als Nächstes treffe ich zwei deutsche Pilger. Einer von ihnen gibt mir den Tipp es mit Uber zu versuchen, aber es gibt gar kein Uber hier, zumindest ist kein Fahrzeug in der Nähe.
Ich bin echt verzweifelt und laufe weiter die Straße runter zurück Richtung León, wo ich in einer Bar frage, ob sie mir ein Taxi rufen können. Die Barfrau sieht mich verwundert an und zeigt auf einen Taxistand unmittelbar neben der Bar. Ich blinde Nuss hab den gar nicht gesehen in meiner Aufregung.
Die erste Hürde ist also geschafft, ein paar Minuten später befinde ich mich im Taxi zurück zur Herberge. Jetzt muss ich nur noch Glück haben, daß jemand meine Uhr gefunden und ehrlicherweise abgegeben hat, oder vielleicht hängt sie ja sogar noch am Bettgestell.
Der Taxifahrer heißt Augustin und spricht etwas Englisch. Auf meine Anfrage hin mich wieder abzuholen und zurück zu dem Punkt zurück zu bringen, an dem ich meine Tour abgebrochen habe, gibt er mir einen Kugelschreiber mit seiner Telefonnummer drauf.
An der Herberge angekommen, renne ich über den Hof und die Treppen rauf in den Schlafsaal. Die Reinemachfrauen sind voll im Gange und sehen mich fragend an, als ich herein stürme und schnurstracks auf mein Bett zusteuere. Ich gebe ihnen gar keine Zeit zum Schimpfen, ich rede in einer Tour und deute dabei abwechselnd auf mein Handgelenk und mein Bett. Und tatsächlich, da hängt meine Uhr. Ich bin so erleichtert und möchte jubeln vor Glück. Auch die Reinemachfrauen freuen sich mit mir und sind sichtlich überrascht, daß sie die Uhr nicht entdeckt haben. Das graue Armband war aber auch gut getarnt an dem grauen Bettgestell.
Es dauert keine zwei Minuten, und ich bin wieder draußen. Da hätte Augustin auch auf mich warten können, jetzt ist er natürlich weg. Schließlich kommt er zehn Minuten nach meinem Anruf und berechnet mir prompt die Anfahrt. Egal, ich bin froh meine Uhr zurück zu haben und meine Tour genau an dem Punkt fortsetzen zu können, an dem ich meine Misere bemerkt habe.
Es ist bereits halb zehn, als ich meinen Camino fortsetze, normalerweise wäre ich wahrscheinlich mindestens zehn Kilometer weiter.
Villar de Mazarife
Es dauert noch eine ganze Weile bis ich gänzlich weg von Häusern und lauten Ladenstraßen bin, aber dann ist der Weg endlich wieder schön. Irgendwann hat sich auch mein Adrenalin wieder abgebaut und ich kann den Weg genießen. Und weil ich heute gen Süden unterwegs bin, habe ich den ganzen Tag die Sonne im Gesicht.
Hauptsächlich geht es an einer wenig befahrenen Landstraße entlang und überraschenderweise immer noch geradeaus. Sollte es nicht ab León anders werden? Später geht es weiter auf rotem Lehmboden durch das Heideland bis ich kurz vor dem kleinen Ort Villar de Mazarife in einer Kurve auf den alten Römerweg stoße, dem ich noch bis Astorga folgen werde.
Heute bleibe ich allerdings in Villar de Mazarife, und zwar in der Herberge Casa de Jesús, einem urig verschnörkeltem Irrgarten. Außer den Zimmern und der Bar ist fast alles nach außen offen, wenn auch überdacht. Diverse Korridore führen über Holzböden von einem Komplex zum anderen. An den Wänden haben sich Pilger mit Zeichnungen und Sätzen verewigt, alles ist gewollt vollgekritzelt. Die hölzernen Stockbetten sind auf mehreren Zimmern verteilt und sehr bequem und gemütlich, da quietscht und wackelt nichts! Und nach langer Zeit erhalte ich mal wieder richtige Bettwäsche anstatt Papierlaken, und das alles für nur zehn Euro.
In dem Ort gibt es einen kleinen Supermarkt, in dem ich neben Obst noch ein paar Backpflaumen kaufe, aus Gründen. Da merke ich, daß ich meinen Geldbeutel gar nicht dabei habe. Zwar habe ich noch Kleingeld in der Tasche, aber ich habe Sorge, daß er entweder für alle offensichtlich noch auf meinem Bett liegt, oder ich ihn auf dem Weg zum Supermarkt verloren habe. Was ist nur heute los?
Zurück zur Herberge geht es, welch Überraschung, nur geradeaus, so daß ich aus der Entfernung ein kleines schwarzes Bündel erkennen würde, wäre da eins. Schnellen Schrittes eile ich zurück und bin beruhigt, als alles noch wie es war auf meinem Kissen liegt, auch mein Geldbeutel. Echt, mir reichen die Adrenalinkicks für heute, ich will nur noch kalt duschen.
Ich gehe also duschen und stellte dann fest, dass ich meinen Lappen vergessen habe, mit dem ich mich immer abtrockne. Unter eisigem Lächeln nehme ich stattdessen mein T-Shirt, das ich anschließend über meinen noch klammen Körper anziehen muss.
Was mir heute noch fehlt sind zwei Amerikaner in meinem Zimmer, die beide eine gewissen Eigenart haben, die ich bei Amerikanern kaum bis gar nicht ertragen kann. Zum einen ist es das in Mode gekommene ‚Vocal Fry‘, eine Sprechweise, bei der die Stimme absichtlich in einen tiefen und knarrenden Ton fällt. Zum anderen finde ich es ganz schrecklich, wenn jemand in einem Satz mehrmals das Wort ‚like‘ sagt, so ähnlich wie im Deutschen ‚halt‘, also »dann bin ich halt…, das war halt so…,« und so weiter, nur daß das ‚like‘ noch viel häufiger missbraucht wird, auch an Stellen, wo es eigentlich gar nicht hin passt.
Wie auch immer, jedenfalls unterhalten sich neben mir ein ‚like‘-Mann mit einer knarrenden ‚vocal fry‘-Frau. Ich kann diese Kombination kaum aushalten und muss das Zimmer verlassen, weil ich mich da voll rein steigere.
Ich setze mich in den Garten, wo sich eine junge Deutsche zu mir gesellt. Wir quatschen über dies und das, und so vergeht die Zeit.
Zum Abendbrot gibt es Suppe mit Bohnen und Kichererbsen und Fleischläppchen mit Pommes.
Die Fliege
Ich beobachte eine Fliege vor mir auf der Tischdecke, die auf dem Rücken liegt und sich nicht mehr selber umdrehen kann. Eine andere Fliege kommt, bleibt kurz vor der umgekippten Fliege stehen und versucht dann zwei Mal erfolglos sie umzudrehen. Die gesunde Fliege gibt auf, läuft auf mich zu und bleibt vor meinem Teller stehen.
Ich deute es zunächst so:
Die gesunde Fliege kommt auf mich zu weil sie möchte, daß ich der kranken Fliege helfe, weil sie es nicht schafft. Ich drehe die kranke Fliege also um, aber es scheint hoffnungslos. Zwar ist sie jetzt richtig herum, bewegt sich aber trotzdem nicht.
Jetzt denke ich, es ist so:
Die gesunde Fliege versucht der kranken zu helfen, begreift aber nach zweimaligem Versuch, daß es sinnlos ist. Sie läuft auf mich zu um zu sagen, »Schau, ich hab‘s gecheckt, ihr ist nicht mehr zu helfen, brauchst es also gar nicht erst versuchen.«
Ich versuche es aber trotzdem und tränke ein Stück Brot in meinem Wein und lege es der kranken Fliege hin, aber sie rührt es nicht an. Demnach stimmt wohl Version zwei.
Ich glaube, mir ist auch nicht mehr zu helfen, ich sollte ins Bett gehen. Ich telefoniere noch mit David, erwähne das mit der Fliege aber nicht.
Strecke: 21,7 km / Schritte: 24159 und noch einige ungezählte Tausend mehr