Tag 23, 30. Juni 2023
Hilfe, ein Erdbeben! Ach doch nicht, meine Mitschläferin im Bett unter mir hat sich umgedreht. Ich werde von heftigen Nachbeben erschüttert, als sie um halb sechs beginnt ihr Zeug zusammen zu packen.
Lukas ist längst fertig und macht sich schon auf den Weg nach León, was auch mein heutiges Ziel ist.
Es sind nur acht Grad Celsius, es ist fast nicht zu glauben. Noch kürzlich war da die absolute Hitze in der Meseta, und jetzt ziehe ich alles an Kleidung an, das ich habe. Und es soll die nächsten Nächte nicht viel wärmer werden. Ich denke, es war die richtige Entscheidung mein Zelt nach Hause zu schicken. Seitdem fühle ich mich sowieso viel freier und habe diesen Druck nicht mehr, dass ich unbedingt zelten muss, damit es sich lohnt, weil ich mein Zelt die ganze Zeit mitschleppe. Jetzt würde ich gerne noch mal die ersten zwei Wochen erleben mit der Einstellung von heute, statt eines Zeltwanderers ein Pilger zu sein, einfach nur unterwegs mit dem absolut Nötigsten.
Schlappe neunzehn Kilometer sind es heute bis nach León. Kommt mir mittlerweile fast lächerlich vor mit der Zahl Eins vorne.
Viele Pilger legen in León einen Ruhetag ein, aber ich habe keine Lust auf Großstadt. Ein Tag ist okay, damit ich die Stadt auch mal gesehen habe, aber so wie in Burgos will ich das nicht mehr haben.
Ich bin gespannt, angeblich soll der Weg ab Leon sehr schön werden, ähnlich wie in den Voralpen mit viel Wald und ziemlich hügelig. Darauf freue ich mich wahnsinnig, aber jetzt geht es erst Mal weiter geradeaus nach León. Und nach Möglichkeit möchte ich bitte gleich im nächsten Ort ein schönes kleines warmes Café finden und dort in Ruhe frühstücken.
Nach fünf Kilometern erreiche ich Villamoros de Mansilla, ein klitzekleines Dorf, das vor hunderten von Jahren von den Mauren bewohnt wurde. Aus dem Dorfbrunnen fließt angeblich Wasser mit heilenden Kräften. Interessant, wie Lukas jetzt wohl sagen würde, aber ich bevorzuge doch lieber Kaffee, der hat meines Erachtens auch heilende Kräfte.
Am Ortseingang ist dann tatsächlich ein Café ausgeschildert und auch nicht schwer zu finden bei den paar Häusern, die hier stehen.
Kurz nach mir kommt auch Richard an, bestellt sich zum Frühstück ein Bier und geht rastlos von einem zum anderen. Sein Handykabel ist kaputt gegangen, und jetzt sucht er jemanden, der ihm aushelfen kann. Ich hänge also sein Handy an mein Kabel, lade es aber gerade Mal zu fünf Prozent auf, dann möchte ich weiter.
»Danke Stef, vielen Dank! Ich weiß das sehr zu schätzen, danke! Hast mir sehr geholfen, vielen vielen Dank. Echt stark von dir, danke! Vielen lieben Dank. Wirklich super!«
»Kein Problem, Richard. Mach’s gut!«
»Du auch Stef, pass auf dich auf. Und nochmal vielen Dank!«
Dabei waren es gerade Mal fünf Prozent. Nicht auszudenken seine Dankbarkeit, hätte ich sein Handy voll aufgeladen.
Kurz vor León ist das endlose Geradeaus der Meseta endlich vorbei, trotzdem ist die Gegend zunächst alles andere als schön. Ich muss ein ganzes Stück an einer Autobahn vorbei gehen, und je näher ich der Stadt komme, umso mehr Asphalt, Verkehr und Industrie umgibt mich. Im dreizehnten Jahrhundert waren hier viele Kunsthandwerker und Händler, später im Mittelalter brachte der Viehhandel die Stadt zum Wohlstand. Heute ist León eine Universitätsstadt und bestimmt viel schöner näher der Altstadt.
Noch relativ weit entfernt davon sehe ich Maria vor einer Herberge stehen, allerdings ohne Manfred. Dieser wollte sich etwas ausruhen und möchte Maria später an der Kathedrale treffen. Maria ist schon im Begriff sich hier in dieser grauenhaften Umgebung einzunisten, sie denkt gar nicht daran, daß es in der Altstadt in der Regel schöner wird und dort auch die meisten Pilgerherbergen sind. Ich überzeuge sie schnell mit mir noch etwas weiter zu gehen, was sie mir bald schon dankt, denn wir bekommen ein Bett in einer städtischen Herberge mitten in der Altstadt für nur acht Euro, die von Hospitaleros und Benediktinerinnen geführt wird. Das ehemalige Kloster ist riesig mit weit über einhundert geschlechtergetrennten Betten und nur dreihundert Meter von der Kathedrale Santa María de Regla entfernt. Hier bekomme ich auch einen neuen Pilgerausweis, denn mein jetziger ist schon fast voll mit Stempeln.
Jetzt habe ich richtig Lust auf einen Kaffee, so richtig mit draußen sitzen, Leute beobachten und vielleicht sogar andere Pilger treffen.
Wie schön die Altstadt von León ist. So lebendig mit vielen Cafés und Restaurants, romantische Plätze und enge gepflasterte Gassen. Ich kann mir gut vorstellen hier ein Wochenende mit ein paar Leuten zu verbringen, um zu feiern und zu bummeln.
Und dann ist da natürlich die Kathedrale Santa María de Regla. Im dreizehnten Jahrhundert im gotischen Stil gebaut und im Laufe der Jahrhunderte erweitert und verfeinert, zieht sie heute Besucher aus aller Welt an, die ihre Architektur bewundern.
Auf dem Plaza San Martin setze ich mich draußen in ein Restaurant und bestelle mir Salat und Pommes. Kurze Zeit später kommt der Kellner zurück und sagt, er würde mir nur den Salat bringen, und statt der Pommes eine kleine Portion Tapas, die es sowieso dazu gibt, denn da seien auch Kartoffelecken bei, und alles andere wäre sonst zu viel. Sehr witzig, denke ich, aber es stimmt, der Salat ist wirklich sehr groß. Ich schütte die paar Kartoffelecken von den Tapas auf meinen Salat, woraufhin der Kellner kurze Zeit später wieder kommt und mir wortlos noch einen kleinen Teller mit Kartoffelecken hin stellt. Hat wohl anhand meiner in Wollsocken und Sandalen steckenden Füße unter dem Tisch bemerkt, daß ich ein hungriger Pilger bin.
Nach einem kurzen Mittagsschlaf in der Herberge kaufe ich im Supermarkt ein kleines Baguette mit Körnern, zwei Pfirsiche und Hummus. Die Klogeschichte ist immer noch nicht zu Ende erzählt, ich brauche Ballaststoffe. Vor allen Dingen brauche ich aber Kaffee am Morgen, und ich glaube, das ist das größte Problem, denn den kriege ich in der Regel immer erst nach zehn Kilometern!
An der Kasse spricht mich eine junge Pilgerin an, die mich von irgendwo her erkannt hat und fragt mich, ob ich Lust habe gleich mit in ein bestimmtes Restaurant zu gehen, dort sei sie verabredet mit ein paar anderen. Nett, denke ich, lasse mir die Option aber offen, denn ich habe ja jetzt meinen Hummus. Trotzdem gehe ich zum besagten Restaurant, einfach um die Atmosphäre aufzusaugen und zu schauen, wie es da so ist, um dann kurzfristig zu entscheiden. Da warten bereits drei Amerikaner vor dem Restaurant, das sind bestimmt diejenigen, die dann auch dabei sind. Ich merke schnell, daß ich tatsächlich überhaupt keine Lust habe auf so viel Gesellschaft und verschwinde unauffällig, bevor die junge Pilgerin dazu kommt und mich sieht.
Stattdessen setze ich mich auf eine Trappe an der Kathedrale und esse mein Körnerbrötchen und den Hummus. Da textet plötzlich Lukas und fragt mich, ob ich mit essen gehen möchte, er sei mit ein paar anderen in einem Restaurant verabredet, unter anderem mit Richard. Wie sich herausgestellt, ist das genau die Verabredung, zu der auch ich eingeladen wurde, und ich bin hin- und hergerissen. Aber nein, ich habe heute Abend keine Lust auf Konversation und beschließe in der Nähe meiner Herberge noch ein Glas Wein zu trinken und dann schlafen zu gehen.
Neben meinem Bett ist direkt die Tür zum Flur, und wiederum direkt am Anfang des Flurs ist die Toilette. Sie wird kontinuierlich heftig zugeknallt, und ich frage mich, warum manche Leute kein Feingefühl haben und nicht mitdenken können?
Auf meinem Bett liegend höre ich wieder Tonaufnahmen von früher, als Oma, Opa, Papa und ich bei meiner Tante in Esens waren und wünschte mir einmal mehr ich könnte noch mal mit Oma sprechen. Alle auf der Kassette sind bereits gestorben, bis auf Papa und Uwe aus Oldenburg. Aber in dem Moment, in dem ich ihre vertrauten Stimmen höre, ist alles wieder so präsent, und sie sind so lebendig.
Strecke: 18,4 km / Schritte: 39415