Tag 30, 07. Juli 2023
Ich glaube, es ist schon nach sieben, als ich mich dazu durchringe mich anzuziehen. Erstaunlich, wie viele immer noch in ihren Betten liegen, offensichtlich hat der gestrige Tag vielen arg zugesetzt. Oder sinkt bei vielen die Motivation weiter zu gehen, weil das Ziel schon so nah ist? Bin ich vielleicht nicht die einzige, die nicht zurück in das normale Leben will?
Ich hatte gestern mit Angela ausgemacht, dass ich heute gerne mal wieder alleine gehen möchte, ich mich aber freuen würde, wenn wir uns abends in Triacastela wieder sehen, wo ich bereits zwei Betten für uns reserviert habe.
Wir haben heute nur zwanzig Kilometer vor der Brust, deshalb möchte ich es ruhig angehen und den Weg in vollen Zügen genießen. So komme ich auch direkt in den Genuss eines anstrengenden Bergaufstiegs und erinnere mich an all unsere Trips ins Sauerland in den Siebzigern und Achtzigern. Ich war zehn und liebte es mit den Erwachsenen und deren Kindern durch die Berge und Wälder zu wandern. Es war der perfekte Mix aus Natur und Großfamilie. Jedes Mal, wenn es dann vorbei war, fühlte ich mich einsam und verbrachte meine Zeit mit Tagträumen. Die Musik der Erwachsenen, hauptsächlich Abba, Roxy Music und Cliff Richard, lief rauf und runter auf meinem Kassettenrecorder, weil sie mich so sehr ans Sauerland und die damit verbundenen Erinnerungen verband. Ich igelte mich auf meinem Zimmer ein, malte Berge und Bäume und stellte mit vor, ich wäre wieder da. Wir würden wieder alle zusammen durch den feuchten Herbstwald wandern und hinterher Kartoffeln im Feuer rösten. Wir Kinder würden an der Dorfkirche Katzengold suchen und abends mit den Erwachsenen Karten spielen. Und so verbrachte ich viel Zeit in meiner eigenen Welt, die Realität überforderte mich in vieler Hinsicht. Eigentlich hat sich nicht viel verändert, nur heute versuche ich meine Träume zu leben, anstatt sie mir nur auszumalen.
Erst nach fünf Kilometern komme ich an einer Bar vorbei, in der ich frühstücken kann. Dicke Steinwände und schummriges Licht sorgen für ein rustikales Ambiente, zur Toilette geht es durch Schwingtüren, ähnlich wie in einem Saloon im wilden Westen.
Während ich am Tresen meinen Milchkaffee, einen Orangensaft und ein Stück Tortilla bestelle, kommt Angela herein. Wir frühstücken zusammen und kommen heute beide nicht so richtig aus dem Quark. Ich bin immer noch sehr müde und brauche definitiv noch einen zweiten Kaffee, bevor ich mich gegen zehn Uhr wieder auf den Weg zwinge. Eine Kuh mit einer großen Glocke um den Hals läuft ebenso transusig an mir vorbei, und es duftet nach Landwirtschaft, als ich das Lokal verlasse.
Ich mache noch öfter Rast unterwegs, meistens mit Angela, die ich immer wieder treffe, da sie heute auch nicht schneller ist als ich.
Ansonsten passiert nicht viel. Ein perfekter Pilgertag mit abwechslungsreichen Wegen und viel Zeit zum Denken und Erinnern.
Triacastela
Der Name des Ortes Triacastela kommt von drei Burgen aus dem Mittelalter, der Castillo de los Andrade, Castillo de Aguiar und Castillo de Pambre, von denen heute nur noch die Ruinen da sind.
Unsere Herberge ist mindestens ebenso rustikal wie der Rest der Gegend, was mir sehr gut gefällt. Angela ist bereits vor mir angekommen und war zunächst besorgt, weil der Herbergsvater meinen Namen nicht in der Liste der Reservierungen stehen hatte. Statt Stefanie stand da Jaqueline, also ich möchte doch bitten! Ein kurzer Anruf bei der Telefonistin von gestern bestätigt aber dann, daß die Jaqueline auch gut und gerne eine Stefanie sein könnte, und Angela darf ihr Bett beziehen. Und weil diejenige, die zuerst kommt auch zuerst mahlt, schlafe ich heute wieder oben. Es macht mir aber gar nichts mehr aus oben zu schlafen, denn ich kann mich mittlerweile richtig gut organisieren. All meine Wohlfühlsachen für die Nacht binde ich nämlich gut sortiert in meinen Packbeuteln um das Bettgestell und habe sie so immer griffbereit. Außerdem sind die oberen Matratzen meistens besser und die Privatsphäre ist größer, es sei denn man hat für unten ein großes Tuch zum Abschotten, das man unter die obere Matratze klemmen kann, denn dann hat man seinen eigenen Vorhang. Soviel zu den Fakten.
Ich bin noch satt vom Mittagessen, deshalb gibt es zum Abendbrot nur ein paar Kekse und Joghurt unter einem Baum im Garten, während Angela sich eine Mikrowellen-Linsensuppe und drei ganze Chorizo Würste einverleibt.
Nur noch 133 Kilometer bis nach Santiago de Compostela…
Strecke: 20,7 km / Schritte: 32931