Tag 5, 12. Juni 2023
Andrew und ich verlassen Pamplona heute gemeinsam, denn er hat Angst nicht alleine aus der Stadt raus zu finden. Ich verabschiede mich noch schnell von Lukas, der einzige von den Jungs die noch da sind, und frage mich, ob ich ihn je wieder sehen werde. Genau mein Thema, und das wird mir auf diesem Weg noch öfter so gehen. Ich finde Abschiede das Schlimmste, sie machen mich fertig.
Wir laufen dann auch wirklich ewig lange, bis es wieder ländlich wird. Nach kurzer Zeit setzen dann auch leider meine Po Muskel Schmerzen wieder ein, und der Rucksack ist mir auch schon wieder so schwer. Andrew gibt mir ein Ibuprofen und ein Stück von seinem Brot, dadurch wird es aber nur bedingt besser.
Andrew will heute gar nicht von mir weg und läuft länger neben mir her, als er geplant hat. Dann fängt er wieder an zu singen, »He holds the lantern while his mother cuts the wood! He holds the lantern and he does it really good«. Und als wir die Gemeinde Zizur Mayor hinter und lassen und das Land erreichen, geht er seinen eigenen Weg weiter und erhöht sein Tempo. Er entfernt sich immer weiter, es ist wie ein kleiner Dolch, der ganz langsam in meine Seele sticht. Ein letztes Mal höre ich ihn singen, dann hebt er seine Hand zum Winken ohne sich umzudrehen, bevor er hinter der nächsten Wegbiegung verschwindet.
In Zariquiegui ist ein kleiner Supermarkt. Hier sitzen sämtliche Pilger auf dem Boden, verarzten ihre Blasen und machen Rast. Die Spatzen zwitschern, und vor mir blühen an einer Mauer rote Rosen. Ich bin froh über meine Isomatte, die zusammengefaltet wie eine kleine Sitzbank ist. Ich schnalle meinen Rucksack ab und mache es mir an der Hauswand mit einem Kaffee und etwas zu Essen gemütlich.
Es folgt ein Anstieg zur berühmten Skulptur, dem Pilgerzug am Alto del Perdón. Das Kunstwerk wurde 1996 geschaffen und stellt Pilger auf ihrem Weg nach Santiago de Compostela dar. Es symbolisiert den Weg der Buße und Vergebung.
Als Andrew und ich gestern in Pamplona noch kurz die Kirche besichtigt haben, hat uns ein Priester angesprochen und gefragt, ob wir Pilger seien. Wie er wohl darauf kam, sahen wir so abgeranzt aus? Warum auch immer, der Priester warnte uns vor diesem Abstieg, weil er so lang und unangenehm sei wegen all des Gerölls. Ich finde es jetzt aber gar nicht so schlimm und kann mit kleinen Schritten und angewinkelten Knien schnell runter.
Die Landschaft ist wunderschön. Ich laufe entlang riesiger Flächen von Korn- und Gerstenfeldern, und überall blüht der Klatschmohn. Um mich herum singen Lärchen und Nachtigallen, noch nie habe ich so viele Nachtigallen gehört. Sie begleiten mich fast die ganze Zeit, und in jedem Dorf, durch das ich gehe, zwitschern die Spatzen und Schwalben. Einwohner sehe ich kaum in den Gassen, wahrscheinlich sind sie alle auf ihren Feldern.
Gerne würde ich heute endlich mal wieder zelten, mal sehen was sich so ergibt.
In Utega kaufe ich mir einen Pilgerstab in einem kleinen Geschäft mit Bar, vielleicht hilft der ja meine Schmerzen etwas zu lindern. Hier trinke ich auch eine Cola und ruhe mich etwas aus. Hinter mir redet ein Amerikaner fast ununterbrochen mit ziemlich lauter Stimme. Er ist etwas nervig, weil er auch so hyperaktiv wirkt. Er ist groß und kräftig, trägt einen Bart, einen breiten Sonnenhut und eine Zahnspange. Er scheint bei allen Leuten um sich herum ein Gespräch zu suchen, und dabei ist er derjenige, der andauernd redet. Ein paar Einheimische am Nachbartisch trinken einen Cider, den sie auf ganz besondere Weise einschenken, indem sie die Karaffe hoch über den Becher halten. Der nervige Amerikaner, der sich als Richard vorstellt, darf einen Schluck trinken, und auch mir wird zum Probieren ein Becher gereicht.
Den nervigen Richard sehe ich dann heute immer wieder mal auf dem Weg. Meistens höre ich ihn schon, bevor ich ihn sehe.
Andrew hat Puente la Reina erreicht und schickt mir den Namen seiner Herberge, in der er heute Nacht bleibt. Ich muß schauen wie weit ich komme, von hier sind es noch über sechs Kilometer bis dahin, und es ist sehr heiß. Aber es wäre natürlich schön ihn doch noch mal zu sehen.
Mein Pilgerstab ist ungewohnt, so ganz weiß ich noch nicht, wie ich ihn am besten nutze. In jedem Schatten halte ich an, weil mir der Po Muskel so weh tut. Meine Füße verarzte ich auch und wechsele meine Socken, weil man durch frische Socken Blasenbildung vorbeugt.
Um vier Uhr Nachmittag, dann wenn es am heißesten ist, komme ich nach 25 Kilometer in Puente la Reina an. Ich finde auch sofort die Herberge, in der Andrew ist und frage an der Rezeption, ob ich hier irgendwo mein Zelt aufschlagen darf. Leider darf ich das nicht, aber sie haben noch Betten, für zwanzig Euro könne ich hier bleiben. Verlockend, aber nein. Ich möchte nicht schon wieder so viel Geld für ein Bett ausgeben, wo ich doch mein Zelt habe.
Der Garten der Herberge liegt angenehm im Schatten, gerne möchte ich hier was essen, ich habe einen Bärenhunger. Als ich Andrew endlich sehe, sagt er, daß es hier nichts zu essen gibt, aber man könne im Restaurant ein Menü für fünfzig Euro kaufen. Er selbst würde nur Nüsse essen und Bier trinken, das sei das einzige, was es sonst gibt. Meine Laune wird schlagartig schlecht, und sie wird noch schlechter, als der nervige Richard mit der Zahnspange in den Garten kommt. Andrew hat Richard auch schon kennen gelernt und wollte ihm eigentlich aus dem Weg gehen. Jetzt ist er aber hier und mischt den Laden auf. Er kauft für jeden Getränke, und so dauert es nicht lange, bis er sämtliche Leute an seinem Tisch sitzen hat, denen er die Taschen voll labern kann. Mir wird das alles zu viel, ich habe Hunger und bin müde. Ich möchte essen, und zwar richtig, und nicht nur Nüsse. Fünfzig Euro will ich aber auch nicht bezahlen, deshalb verabschiede ich mich von Andrew, schwinge meinen gefühlt immer schwerer werdenden Rucksack auf den Rücken, schnappe meinen Pilgerstab und bewege mich träge in Richtung Dorfmitte.
Jede Menge Störche nisten auf dem Kirchturm, wie idyllisch. Ein schönes Dorf, aber es wirkt auf mich bedrückend. Wahrscheinlich weil ich immer noch nicht weiß, wo ich schlafen soll und wo ich was zum Essen kriege. Einen Platz zum Zelten werde ich hier nicht finden, und aus dem Dorf wieder raus ist mir jetzt zu weit.
Kein Pilger weit und breit und keine Bar oder Restaurant. Die Bars die ich sehe sind voller alter Männer aus der Gegend, und ich bezweifle, daß es da was zum Essen gibt.
Am Ende der Dorfstraße entdecke ich dann eine kleine Herberge, dessen Dachterrasse ganz gemütlich aussieht. Die Tür ist allerdings zu, also klingele ich.
»Hola.« höre ich eine Frauenstimme durch die Sprechanlage.
»Hola, have you got a bed for me available tonight?«
»You have reservation?«
»No.«
»No, don’t have bed, bye«, und legt auf.
Na toll. Und jetzt? Verzweifelt trotte ich wieder zurück in die Richtung, aus der ich gekommen bin und überlege, ob ich doch in Andrews Herberge zurück gehen soll. Aber das wäre auch schon wieder so weit weg, und ich habe immer noch nichts gegessen.
Neue Überlegung: Im Internet suchen. Mittlerweile ist mir egal, wenn es teuer ist, Hauptsache ich muß nicht mehr weit laufen. Auf booking.com finde ich nur eine Herberge, die allerdings etwas außerhalb der Stadt liegt, aber zumindest in der Richtung, in die der Jakobsweg morgen weiter geht. Ich buche direkt, damit mir keiner das Bett weg schnappt, und es kostet nur fünfzehn Euro.
Ein Einheimischer erklärt mir freundlicherweise den Weg, nachdem er mich mit meinem Handy sieht, wie ich mich in alle Richtungen drehe. Er sagt, ich muß über den Fluß und dann einen Hügel rauf.
Na gut. Wenn ich gleich wie ein Käfer auf dem Rücke liege, dann ist das so. Irgendjemand wird mich schon finden und retten.
Ich erreiche die Herberge und bin überrascht wie schön ländlich und ruhig es hier ist. Und was sehe ich da? Eine große Wiese, auf der drei Zelte stehen! Man kann hier zelten! Nicht zu fassen, und ich habe ein Bett gebucht. Das ganze ist jetzt nur noch mit viel Humor zu ertragen. Aber ich lebe ja nach dem Motto Alles hat einen Sinn, also gehe ich zur Rezeption, um zu sagen, dass ich da bin. Die Rezeption ist zugleich die Theke einer großen Halle voller Tische und Stühle, es sieht hier aus wie in einer Kantine. Kein anderer ist hier, außer einer Handvoll Leute und denjenigen, die draußen zelten.
Und dann geschieht etwas fantastisches. Etwas unglaublich geniales, ein Segen: Ich werde gefragt, ob ich was essen möchte! Ich werde fast verrückt vor Freude, der Wirt sieht mich nur mit großen Augen an, als er mir das Pilgermenü zeigt. Ich entscheide mich für einen Salat, Hühnchen mit Pommes und einen Joghurt als Nachtisch und ein Bier, und das ganze für dreizehn Euro. Und weil ich gerade dabei bin, kaufe ich mir ein Frühstücksticket für fünf Euro.
Wie glücklich ich jetzt bin. Zwar muss ich noch ein wenig warten bis es Essen gibt, aber ich überbrücke die Zeit mit einer ausgiebigen Dusche. Anschließend setze ich mich noch nach draußen und plaudere mit Hans aus Holland, siebzig Jahre alt, der mit dem Fahrrad hier ist und mit Rebecca aus Deutschland, die mit ihrem Hund unterwegs ist und auch im Zelt schläft. Rebecca sagt, sie habe in der ersten Nacht in den Pyrenäen direkt am Wegrand ihr Lager aufgeschlagen, sie konnte einfach nicht mehr weiter. Ich muß auch viel entspannter werden was das angeht. Ich denke immer, ich werde von der Guardia Civil verhaftet, falls ich entdeckt werde.
Übrigens schlafe ich in einem Zwölfbettzimmer, das ich mir mit vier französischen alten Männern teile. Die Stockbetten sind Kopf an Kopf angeordnet, jeweils drei auf jeder Wandseite. Von den unteren Betten sind nur die mittleren noch frei, was bedeutet, daß ich in jedem Fall von irgendeinem meiner Nachbarn die Füße in der Nähe meines Kopfes hätte. Also entscheide ich mich freiwillig für ein oberes Bett. Mich kann heute gar nichts mehr erschüttern, wo ich doch gleich so ein Festessen bekomme.
Zusammen mit Hans und Rebecca sitze ich jetzt in der Kantine. Ich kann fast nicht reden, so gierig schlinge ich mein Essen herunter. Diese Pilgermenüs sind nie wirklich viel, aber mein Magen ist mittlerweile so geschrumpft, dass ich sowieso nicht mehr essen könnte. In vielen Herbergen oder Bars entlang des Weges werden solche Pilgermenüs angeboten. Sie kosten im Durchschnitt fünfzehn Euro und bestehen grundsätzlich aus einer Vorspeise, einem Hauptgericht und einem Nachtisch. Fast überall kann man aus den Angeboten wählen, wobei auch die Auswahl fast immer die gleiche ist: Als Vorspeise gibt es meistens entweder einen gemischten Salat, bestehend aus Eisbergsalat, Tomaten, Oliven und Thunfisch, oder Pasta mit Tomaten- oder Fleischsauce, machmal mit Käse oben drauf. Der Hauptgang sieht, abgesehen von der vegetarischen Variante, fast immer gleich aus, egal ob es Hühnchen oder Rindfleisch ist, es sind immer Fleischscheiben mit einer Handvoll Pommes. Das ganze ist sehr trocken, weil es keine Sauce dazu gibt, also fragen die meisten nach Ketchup. Als Nachtisch gibt es dann entweder ein kleines Stück Kuchen, Joghurt oder ein Eis aus der Truhe.
Als Nachtisch bekomme ich heute einen kleinen Becher Naturjoghurt mit einem Päckchen Zucker.
Ich bin sicher, ich werde heute Nacht schlafen wie ein Baby und begebe mich zu meinen Franzosenmännern, die ich garantiert nicht hören werde. Ich bin so müde…
Strecke: 25,3 km / Schritte: 44963