Ponferrada – Villafranca del Bierzo

Tag 28, 05. Juli 2023

Die weißen Vorhänge sind dann doch eher suboptimal, wie wir in der Nacht feststellen. Es steht nämlich eine Laterne direkt vor den Fenstern, und es war ohne Übertreibung so hell im Zimmer, daß ich ein Buch hätte lesen können. Weil ich aber so erschöpft war, schlief ich trotzdem den Schlaf der Gerechten, wie eigentlich jede Nacht auf dem Camino.

Angela und ich gehen zunächst gemeinsam los, trennen uns aber nach einer Tasse Kaffee und setzen unseren Weg alleine fort. Spätestens in der Herberge in Villafranca del Bierzo sehen wir uns ja eh wieder.

Süße Früchte

Abgesehen von ein paar wenigen nicht so schönen Dörfern, die immer noch zu Ponferrada gehören, ist das Bierzo Weinbaugebiet drumherum traumhaft. Blühende Mohnblumen sorgen für rote Farbkleckse im grünen Rebenmeer, stellenweise erinnert mich die Landschaft sehr an den Schwarzwald. Der hier angebaute Wein wird zum größten Teil in Spanien verkauft, nur ganz wenig davon wird exportiert. 
Ich laufe gerade an einer Landstraße entlang, als ich hinter dem Ort Cacabelos in etwa fünfzig Meter Entfernung Angela vor mir sehe, wie sie schon wieder halb in irgendeinem Baum hängt. Ihre Wangen sind vollgestopft mit irgendwas, sie kann kaum sprechen und deutet nur mit den Händen nach oben, als ich einen Feigenbaum erkenne. Er hängt voller frühreifer Früchte, und nur kurze Zeit später sind auch meine Backen voll mit süßen Feigen. Als hätten wir tagelang nichts zum Essen bekommen, stopfen wir uns die leckeren Früchte in den Mund und in die Hosentaschen. 
Ich kann mir vorstellen, daß man sich als Pilger im Spätsommer mühelos vom Wegrand ernähren kann, so viele Obstbäume gibt es entlang des Weges. Ich hätte wahrscheinlich die Taschen voller Birnen, Äpfel, Mirabellen, Kirschen, Hasel- und Walnüsse, Aprikosen, Maulbeeren und natürlich Feigen und könnte mich nicht mehr fortbewegen, weil mein Rucksack zu schwer ist.

Kurz darauf führt der Weg direkt in die Weinberge, fernab von Straßen und Häusern, es ist einfach traumhaft, und ich möchte gar nicht mehr, dass das hier zu Ende geht.

Villafranca del Bierzo

Ich erreiche Villafranca del Bierzo gegen Mittag und gönne mir am Ortseingang direkt ein ordentliches Mittagessen in Form von Spaghetti Bolognese. Mir ist bewusst geworden, daß ich essen sollte sobald ich was kriegen kann, denn dann reichen auch ein paar Nüsse vor dem Schlafengehen, sollte ich nichts mehr bekommen oder zu erschöpft sein etwas zu suchen.
Auf der anderen Seite des Dorfes ist Akis Herberge. Der Herbergsvater bietet mir einen Kaffee an und lässt mir Zeit mich zu sortieren, bevor er meine Credentials aufnimmt und mir den Pilgerstempel gibt. Da höre ich jemanden die Treppe runter humpeln, das kann nur die fußkranke Aki sein, denke ich, und als sie um die Ecke kommt um mich zu begrüßen, fallen wir uns in die Arme und freuen uns wahnsinnig, daß wir uns wieder sehen. Aki sieht gut aus, humpelt aber immer noch stark. Sie wird in den nächsten Tagen nur kurze Etappen gehen, denn ist sie nicht zeitgebunden und kann ihre Tour dementsprechend anpassen.
Ich erkläre dem Herbergsvater, daß demnächst noch eine Freundin namens Angela ankommt, doch er meint, sie sei längst da. Unmöglich, denke ich, sie war hinter mir, als ich sie zuletzt in den Weinbergen sah. Doch Aki bestätigt, ja, Angela sei oben und sitzt da auf ihrem Bett. Ich fasse es nicht, an welcher Stelle hat sie mich überholt? Wir werden das Rätsel nicht lösen, deshalb versuchen wir es erst gar nicht. 

Es ist unglaublich gemütlich. Der Schlafsaal ist unter einer Dachschräge, hell und großräumig.  Es gibt statt Stockbetten nur Einzelbetten und sogar richtige Bettwäsche aus Stoff!
Ja, ich weiß, ich sollte raus und Sehenswürdigkeiten erkunden, wie zum Beispiel die Pforte der Vergebung an der romanischen Santiago Kirche aus dem 12. Jahrhundert, wo früher diejenigen Pilger ihren Sündenablass bekamen, die aus eigener Kraft nicht bis nach Santiago weiter konnten, oder die ganzen Paläste und Herrenhäuser in der Stadt. Ich glaube, ich muss den Jakobsweg nochmal gehen, dann aber in kürzeren Etappen, um all das mitnehmen zu können, denn so bin ich am Ende des Tages nicht mehr in der Lage.
Angela geht es nicht viel anders, und Aki im Moment sowieso nicht, so verbringen wir den Nachmittag mit Ausruhen und Klönen. Ich kühle meine geschwollenen Füße in kaltem Wasser in meiner Faltschüssel, Aki spielt auf dem Handy und Angela macht Yoga vor dem Bett. Ich genieße die Gesellschaft und das Nichtstun wie lange nicht mehr. Uns allen gelüstet nach gesundem Essen mit Gemüse, und weil diese Herberge über eine Küche verfügt, beschließen wir in den Supermarkt zu gehen und einzukaufen, sobald die Siesta um fünf Uhr beendet ist und die Geschäfte wieder aufmachen. Schließlich kaufen wir Reis und diverses Gemüse, sowie ein paar Sachen für den eigenen Verzehr für den nächsten Tag ein. In der Küche brutzeln wir zusammen und essen anschließend ein leckeres gesundes Essen. Dabei trinken wir Prosecco, und es ist richtig schön.

Morgen wollen Angela und ich zusammen zu unserem nächsten Etappenziel O Cebreiro gehen. Das wäre das erste Mal auf meinem Camino, daß ich nicht alleine unterwegs sein werde. Und weil wir beide eher zu der Gattung Mensch gehören, die immer alles etwas anders machen als andere, haben wir uns vorgenommen den Camino duro zu gehen, den »harten« Weg. Er ist etwas länger als die normale Route entlang der langweiligen N6 und der Autobahn, soll dafür aber um einiges anstrengender sein und führt bereits direkt hinter unserer Herberge steil in bergiges Terrain. In meinem Pilgerführer steht, diese Route sei eher etwas für Pilger mit viel Elan.
Sind wir das? 

Ich bin gerade rundherum zufrieden mit mir und allem. Ein normales Leben ausserhalb der Wanderschaft kann ich mir gar nicht mehr vorstellen. Es ist fast so, als gäbe es keine andere Realität. Ich bin komplett entspannt, habe weder Druck noch trage ich Verantwortung für irgendwas anderes außer für mich selbst. Ich bin in meiner Mitte, und da würde ich gerne für immer bleiben.

Strecke: 24,4 km / Schritte: 37037

Ich freue mich über ein paar Worte