Roncesvalles – Zubiri

Tag 2, 09. Juni 2023

Alles ist klamm, als ich morgens wach werde. Ganz dicht an meinem Zelt gibt eine Amsel ihr nüchternes Potpourri von Tonfolgen zum besten, so wie ich es von einem Singvogel dieser Art noch nie gehört habe. Während ich mich pfeifend aus meinem Schlafsack pelle, um die Amsel zu motivieren mal was anderes zu versuchen, fängt es leicht an zu regnen. Ich möchte aber nichts auf die nasse Wiese legen, deshalb trage ich meine Sachen in den Wald, wo es noch relativ trocken ist und sortiere mich dort in Ruhe. Am Himmel stehen dunkle Wolken, und ich muß an Andrew und Aki denken, die heute bei diesem Wetter über die Pyrenäen müssen.

Das Zelt ist schnell abgebaut und verstaut. Und, ach ja, da hängt ja noch der Beutel mit meinem Essen im Baum! Den hatte ich gestern Abend ein Stück weiter weg vom Zelt an einem Ast aufgehängt, für den Fall, daß irgendein hungriges Waldwesen auftaucht und mein Schlafgemach mit einer Speisekammer verwechselt.
Schließlich ist alles wieder fertig gepackt, und so verabschiede mich von meinen Freunden, der einfallslosen Amsel und dem Pferdekiefer, und mache mich um kurz vor acht Uhr auf den Weg.

Ein halbe Stunde später erreiche ich die historische Pilgerherberge Orreaga in Roncesvalles. Dieses ehemalige Kloster wurde schon im Jahr 1127 zur Herberge, um Pilgern auf ihrem Weg nach Santiago de Compostela Unterkunft und Verpflegung zu bieten.

Auf dem ganzen Weg hierher habe ich keine Menschenseele gesehen, und auch jetzt ist hier weit und breit niemand, erst recht kein Geschäft oder Café. Ein kleiner Pfad führt an einem zerfallenen Gebäude vorbei auf einen Torbogen zu. Ich gehe durch und stehe auf dem riesigen Innenhof. Auf der gegenüberliegenden Seite erkenne ich wieder einen Torbogen, ob da wohl der Eingang ist? Hinter dem Torbogen ist noch ein Torbogen und dann kommt eine Tür. Diese sieht verschlossen aus, aber wo soll sonst der Weg zum Pilgerbüro sein? Bin ich etwa schon wieder durch einen Hintereingang gekommen? Es ist schon seltsam, ich stehe hier im Gang dieses wie ausgestorben wirkenden ehemaligen Klosters, und es herrscht absolute Stille, das trübe Wetter unterstreicht die Atmosphäre. Und dann ist da diese Tür. Ich öffne sie langsam, und dahinter ist plötzlich ein Hauch von Leben. Ich sehe warmes Licht, eine Treppe führt nach oben, und ich vernehme vereinzelnd Stimmen. Außerdem riecht es nach Kaffee!
Als ich den Frühstückssaal der Herberge betrete, sind keine Pilger mehr zu sehen. Ich stehe vor abgeräumten Tischen, nur auf einigen stehen noch Gedecke mit Frühstückskuchen, Orangensaft, einem Apfel und Marmelade. Ein paar der freiwilligen Helfer wuseln herum, und als mich eine von ihnen entdeckt, schaut diese mich mit großen Augen an.
Draußen vom Walde komme ich her, will ich erst sagen, aber ich verkneife mir das und bitte höflich um einen Kaffee und etwas zu Essen.
„Como? Wie bitte?“ fragt die Frau verwirrt. Ach du je, was heisst denn nochmal Frühstück auf Spanisch? Ich gestikuliere den Akt der Nahrungsaufnahme, woraufhin sich ein Schwall von spanischen Worten über mich ergießt. Aus den paar Brocken Spanisch, die ich beherrsche, verstehe ich, dass nur die Pilger ein Frühstück bekommen, die im Besitz eines gewissen Tickets sind. Und das seien auch nur diejenigen, die hier in dieser Herberge übernachtet haben. Aber ich könne einen Kaffee bekommen.
Nun gut, ich sehe, ich muß andere Geschütze auffahren. Ich setze ein zutiefst bemitleidendes Gesicht auf und bedanke mich für das Angebot einen Kaffee zu bekommen, dieser würde mir schon helfen, dass ich nicht völlig geschwächt zusammenbreche.
Das sitzt. Es dauert nicht lange, und die Frau kommt zurück um mich zu fragen, ob ich vielleicht auch etwas Brot haben möchte.
„Oh, si, muchas muchas gracias! Vielen herzlichen Dank!“ antworte ich und lasse mich schwer auf einen Stuhl fallen.
Ich bekomme dann tatsächlich einen köstlichen Kaffee, einen Teller mit einer großen getoasteten Scheibe Brot, einem Croissant, Butter, Honig und Marmelade. Ich schlinge alles förmlich in mich hinein, denn ich bin wirklich ausgehungert. Nach all der Anstrengung gestern und dem dürftigen Abendbrot an meinem Zelt, schreit mein Körper jetzt nach Nahrung. Am liebsten hätte ich nochmal so eine Portion gegessen, aber ich bin dankbar und gebe am Ende noch ein gutes Trinkgeld. Es ist nämlich gar nicht üblich, dass die Herbergen auf dem Jakobsweg morgens Pilger von außerhalb rein lassen und bewirtschaften, was ich zu diesem Zeitpunkt meiner Reise aber noch nicht weiß.
Ich hole mir noch meinen Stempel im Pilgerbüro ab, und dann mache ich mich auf den Weg Richtung Zubiri, meinem heutigen Etappenziel.

Lange laufe ich, ohne einen anderen Wanderer zu sehen. Es geht über schöne Wege und durch viel urigen Wald. Ich überquere Flüsse, komme durch kleine Ortschaften wie Burguete, oder Auritz im Baskischen, wo ich fast verpasse abzubiegen. Habe gar keinen gelben Pfeil gesehen, der den üblichen Weg markiert, stattdessen schaue ich wie durch ein Wunder zufällig auf meine Karte, weil ich wissen will, wie der Ort heißt. Hätte ich das nicht gemacht, wäre ich glatt weiter geradeaus gelatscht.
Wären da nicht die gemauerte Gräben auf beiden Seiten der Straße sondern Gehwege, würde ich annehmen, ich spaziere durch ein Dorf irgendwo in Hessen.

In der Ferne sehe ich Blitze, und es grummelt bedrohlich. Ich schaffe es noch einige Kilometer zu laufen, bevor es kurz vor Espinal anfängt zu regnen. Ich ziehe meinen gelben Mickey Maus Poncho an, laufe schnell weiter bis ich das Dorf erreiche und finde noch rechtzeitig Unterschlupf an einem Hauseingang, als es so richtig los geht. Ich arbeite mich von Haustür zu Haustür weiter, weil ich hoffe, ein Café zu entdecken, in dem ich den Regen gemütlich absitzen kann. Stattdessen stoße ich auf eine Französin namens Anne, die sich auch an einem Haus untergestellt hat. Anne schlägt vor zur Kirche schräg gegenüber zu rennen, was wir auch tun. Wir rufen noch einer anderen Pilgerin zu, die auch auf der Suche nach einem trockenen Plätzchen ist, und so sind wir bald zu viert in der Parroquia de San Bartolomé, denn eine andere sitzt schon da. Aber wir reden nicht. Es ist still und andächtig. Anne betet, ich suche eine Steckdose, um mein Telefon aufzuladen. Ich weiß, ich klinge wie ein Atheist, das bin ich aber nicht. Ich brauche nur nicht unbedingt eine Kirche, um zu beten. Ich brauche jetzt eher Strom. Meine Begegnung mit Gott hatte ich bereits vor Jahren, und seitdem immer mal wieder. Vielmehr ist es so, daß Kirchen mich traurig machen. Keine Ahnung warum das so ist, aber ich muß fast immer weinen, wenn ich mich in eine Kirche setze und mich darauf einlasse „zu spüren“. Was das aber ist, was ich da spüre, kann ich nicht sagen, aber es ist groß und hat Macht, und es macht mich traurig. Vielleicht ist das ja auch Sinn und Zweck des ganzen. Ich weiß eigentlich nichts aus der Bibel, und ich weiß auch nicht wer dieser Jakob ist, auf dessen Weg ich mich hier befinde, außer, daß er ein Apostel Jesu war. Aber muß ich das alles wissen? Und muß ich in einer Kirche beten, nur weil man es da eben so macht? Ich überlege kurz, ob ich wenigstens so tun soll, damit die anderen nicht schlecht von mir denken. Doch wie sagte Meryl Streep so schön:

Sobald du anfängst, dir Gedanken darüber zu machen, was andere über dich denken, hörst du auf, du selbst zu sein.

Schließlich suche ich weiter nach einer Steckdose.

Draußen tobt jetzt ein Gewitter, es dauert etwa eine halbe Stunde, bis der Regen nachläßt und ich mich wieder nach draußen traue.
Um die Ecke der Kirche ist dann auch das Café, das ich vorhin so gerne gehabt hätte. Hier bestelle ich einen Café con leche und ein Croissant mit Käse und Schinken. Als wäre das Croissant nicht schon fettig genug, träufelt der Wirt noch Öl drauf. Dann schiebt er es in den Ofen, damit der Käse so richtig schön schwitzt in seinem Fettbett.

Die Sonne kommt kurz raus, und ich nutze die Gelegenheit mein nasses Zelt auf dem Boden auszubreiten, um es zu trocknen. Der Regen hat alles matschig gemacht, überall sind Pfützen. Die Wege sind jetzt oft unbefestigt, voller Geröll, und stellenweise tun sich tiefe Steinfurchen vor mir auf. Und meine Füße tun mir so weh!
Dann erneuter Regen, und was für einer! Ich bin mitten im Wald und kann mich nur unter einen Baum retten, um nicht die volle Ladung Wasser von oben ab zu kriegen. Eine kleine Gruppe von Leuten wandert unbekümmert an mir vorbei. Einer von ihnen trägt Sandalen mit Socken an, mit denen er durch den nassen Matsch rutscht. Eine Frau hat eine weiße Hose an, die jetzt bis zu den Knien schwarz vor Dreck ist.
Die Vorstellung mein Zelt in so einer Patsche aufzubauen und schmutzig wie ich bin hinein zu kriechen gefällt mir nicht. Nein, ich will heute nicht zelten. Mir tut auch alles weh, ich möchte ein Bett.

Kurz vor Zubiri setze ich mich dann einfach hin, ich kann nicht mehr.
Jetzt reiß dich zusammen und laufe weiter, es ist ja nicht mehr weit, höre ich den Schweinehund in mir sagen. Ich gehorche brav, aber es tut so weh. Es geht die ganze Zeit steil bergab durch den Matsch und über noch mehr Geröll und ausgewaschenen Steinrinnen. Wie der Typ mit den Sandalen das geschafft hat, ist mir ein Rätsel. Ich glaube ohne meine Wanderschuhe würde ich mir hier den Hals brechen.

In Zubiri hat die Herberge Zaldiko noch ein Bett für mich frei. Die sehr freundliche Herbergsmutter spricht Englisch und weist mich in die Besonderheiten ein, was ich gut finde, denn ich bin ja ein totaler Neuling was solche Pilgerherbergen betrifft.
»Das Bett kostet vierzehn Euro, ohne Frühstück, nebenan ist aber eine Bar. Schuhe bleiben in einem Schrank neben dem Eingang, das Wasser aus dem Hahn kann als Trinkwasser genutzt werden, Duschen und WC sind hier links, da drüben ist das Schlafzimmer, und dein Bett ist da oben.« Sie nimmt mir sogar meinen Poncho ab und hängt ihn für mich auf.
»Und um zehn Uhr wird die Haustür abgeschlossen.«
Die Bettwäsche ist aus Papier und wird mir in die Hand gedrückt.

Schon wieder ein oberes Bett, aber ich bin dankbar und froh und freue mich auf eine heiße Dusche und darauf später die Füße hoch legen zu können und im Trockenen zu sein, denn draußen schüttet es schon wieder.

Ein Pilger liegt erschöpft in seinem Bett, und ich versuche keinen Lärm zu machen, als ich meins beziehe. Das ist gar nicht so einfach, denn ich muss praktisch auf der Matratze sitzen, während ich das Papierspannbettlaken aufziehe, denn sonst komme ich ja gar nicht an die Ecken ran! Und überhaupt, schon mal mit wundgelaufenen Füßen die dünnen Metallsprossen einer Leiter eines Etagenbetts hochgestiegen?


Mein Hunger ist riesig, deshalb gehe ich direkt in die Bar gegenüber. Die Auswahl an Essen ist allerdings eher dürftig, außer Tortillas, Tapas und Bocadillos gibt es nichts, dabei hätte ich jetzt so gerne was richtig deftiges, zum Beispiel einen Teller mit Fleisch, Gemüse und Kartoffeln. Stattdessen gibt es heute ein Stück Tortilla und ein großes Bier.
Ich erkundige mich per WhatsApp nach Aki und Andrew, denn ich mache mir echt Gedanken, wie sie bei diesem Gewitter heute die Pyrenäen gemeistert haben. Tatsächlich ist Aki heute bis nach Espinal weiter gelaufen, also da wo ich in der Kirche Unterschlupf gefunden habe, und Andrew ist in Roncesvalles geblieben. Beide sind unterwegs pitschnaß geworden, aber zum Glück sind sie nicht vom Blitz getroffen worden.

Für etwas Obst und Kekse für morgen besuche ich den Supermarkt nebenan. Hier gibt es alles was das Pilgerherz begehrt, sogar abgepackte Wurstscheiben und von der Decke baumelnden Schinken.

Es fehlt mir heute Abend an Konversation, deshalb gehe ich nach dem Duschen direkt wieder in die Bar, kaufe mir noch ein Bier und setze mich zu zwei Wein trinkenden Frauen an einen Tisch. Wir stoßen sogleich miteinander an und haben uns direkt viel zu erzählen. Die beiden Damen sind um die fünfzig und aus Südafrika angereist. Eine von ihnen ist den Jakobsweg vor vier Jahren schon mal gegangen und hat dort tatsächlich ihren jetzigen Mann „getroffen“, möchte ich sagen, denn kennengelernt haben werden die beiden sich erst im Laufe ihrer Ehe. Die Frau erzählt nämlich, daß er ihr nach einer Woche auf dem Camino bereits einen Heiratsantrag gemacht hat, und dabei seien sie noch nichtmal die ganze Zeit zusammen gepilgert. Tja, und seitdem sind sie glücklich verheiratet. Verrückt. Da geht sie auf Pilgerfahrt und kommt verlobt nach Hause.

Jetzt freue ich mich aber wirklich auf mein Bett. Es regnet schon wieder wie aus Eimern. Was bin ich froh nicht in meinem Zelt zu sein. Ich klettere die schmerzhafte Leiter hoch, stopfe mir Ohrstöpsel in die Ohren, und es dauert keine paar Minuten, bis ich einschlafe.

Hier wieder die heutige Route von Camino Time Lapse auf YouTube.

Strecke: 24 km / Schritte: 42030

Ich freue mich über ein paar Worte