Anreise, 06./07. Juni 2023
Jetzt ist es tatsächlich soweit. Seit Tagen wechseln meine Gefühle von »Ich möchte endlich los« zu »Ich möchte überhaupt nicht los«. Es kommt mir vor, als würde ich Freunde und Familie im Stich lassen, einfach abhauen und nicht mehr wieder kommen. Ganz seltsam. Vorgestern kam ich erst von einer dreitägigen Europatour aus Budapest, Athen und Glasgow zurück, und gestern bin ich dann den ganzen Tag nur doof rumgesessen. Ich mußte oft weinen, ob es an der Aufregung liegt?
Dabei bin ich es doch gewohnt ständig weg zu sein, und abenteuererprobt bin ich auch. Wovor habe ich Angst? Und ist es überhaupt Angst, oder bin ich einfach nur unsicher, weil ich diesmal so gar nicht einschätzen kann, was mich in den nächsten sechs Wochen erwartet?
Als ich am Morgen des 06. Juni meinen Rucksack schultere und die Tür hinter mir zu ziehe, fühlen sich meine Beine wie Pudding an. Meine Hände sind klitschnass, und mir ist schlecht, als ich im Bus zum Bahnhof sitze. Ich habe das Gefühl jeder starrt mich an, und ich frage mich, wieviele Leute eigentlich die Jakobsmuschel an meinem Rucksack wahrnehmen und wissen, was es damit auf sich hat. Ehrlich gesagt, wusste ich es bis vor Kurzem auch nicht. Die Muschel gilt als Zeichen der Pilger, die auf dem Weg nach Santiago de Compostela unterwegs sind, wo sich das Grab des Heiligen Jakobus befindet, dem Schutzpatron der Pilger. Jeder Pilger hat eine solche Muschel an seinem Rucksack. Meine habe ich von David bekommen. Er hat sie höchstpersönlich vor Jahren gegessen.

Meine Anreise nach Saint-Jean-Pied-de-Port wird folgendermaßen ablaufen: Mit dem Bus fahre ich zum Herner Bahnhof. Von dort geht es mit dem Zug nach Köln und weiter mit dem Thalys nach Paris-Nord. Wenn ich da ankomme, laufe ich auf die andere Seite der Seine nach Montparnasse, wo ich ein Bett in einem 4-Bett Zimmer eines Hostels für heute Nacht gebucht habe. Morgen früh fahre ich dann zunächst weiter nach Bayonne und schließlich nach Saint-Jean-Pied-de-Port, wo ich am frühen Nachmittag ankommen werde.
Paris-Nord
Das Ganze verläuft ziemlich unspektakulär, denn ich verpasse weder meinen Zug, noch wird entgegen meiner Vermutung in Paris der öffentliche Verkehr bestreikt.
In Paris-Nord angekommen muß ich mich erst mal orientieren. Ich irre etwas verloren durch den Bahnhof, denn ich finde die Toilette nicht. Man sollte doch annehmen, daß so ein öffentlicher Abort gut ausgeschildert ist. Ich beginne sogleich Paris mit London zu vergleichen und entwickle ungerechterweise direkt eine Abneigung gegen die Stadt. Ich finde die Toilette dann am Ende der Bahnhofshalle und habe keine Euro Münze, weil zu schwer. Aber dann entdecke ich einen Kartenleser neben dem Münzschlitz. Erstaunlich, ich kann meine Kreditkarte benutzen! Noch nie zuvor habe ich meine Notdurft mit Kreditkarte bezahlt. Und wie soll ich das jetzt mit dem Rucksack machen in der engen Kabine, setze ich ihn ab oder lasse ich ihn auf? Beides erfordert einen gewissen Arbeitsaufwand, denn er ist auf Dauer doch recht schwer und fühlt sich im Moment noch an wie ein Fremdkörper. Es ist, als wiege man schlagartig zehn Kilogramm mehr. Hoffentlich geht das bald vorbei.
Jetzt habe ich acht Kilometer Fußweg durch die Hitze vor mir. Zwar könnte ich den Bus nehmen, aber ich möchte mich gerne schon etwas einlaufen. So kann ich am besten abwägen, ob mein Rucksack richtig eingestellt ist, oder ob ich vielleicht doch noch etwas aussortieren muß, wenn ich auch nicht wüßte, was ich von meinen Sachen entbehren könnte.
Um zu meinem Hostel nach Montparnasse zu kommen, laufe ich, vorbei am Notre Dame, die Rue Saint-Martin Richtung Süden und begreife erst später, daß ich mich bereits auf dem Jakobsweg befinde.
Paris-Nord ist fürchterlich, es ist dreckig, voll und laut. Ich werde ohne Unterbrechung von Polizei- und Krankenwagensirenen begleitet, und es ist heiß! Ich habe viel zu wenig Wasser und kaufe in einem kleinen Laden eine neue Flasche. Als der Verkäufer meine leere Flasche sieht, fragt er mich netterweise, ob er sie auffüllen soll. Ich begrüße das Angebot, nur ist jetzt der Rucksack noch schwerer. Ich muß ihn bald absetzen und die Schultergurte neu einstellen. Das kann ja noch heiter werden…
In meinem Hostel angekommen, kriege ich zum Ersten mal das Pilgerdasein zu spüren. Mir wird das obere Bett eines Etagenbetts in einer kleinen Kammer zugewiesen, welche in einer Art Innenhof liegt. Um zu ihr zu gelangen, laufe ich durch verwinkelte Gänge und an noch mehr verwinkelte Treppen vorbei. Es hat aber auch was gemütliches, denn das Bett besitzt einen Vorhang für etwas Privatsphäre. Erinnert mich etwas an die Kojen für die Crew in unseren Flugzeugen.
Am nächsten Morgen möchte ich keinen Lärm machen, als ich aufstehe, um meine Mitschläfer nicht aufzuwecken. Also schnappe ich mein Zeug und trage alles durch die verwinkelten Gänge zur Rezeption. Da schlafen doch tatsächlich die Rezeptionisten auf einer Couch, ich also wieder zurück an den verwinkelten Treppen vorbei in den Innenhof. Es ist noch dunkel, und ich kann nicht viel erkennen. Plötzlich steht einer der Rezeptionisten in der Tür zum Hof und sieht mich fragend an. Als er sieht, daß nichts passiert ist und ich nur packe, lässt er die Türen zu den verwinkelten Gängen für mich offen und schaltet das Licht an. Dann legt er sich wieder hin, und ich verlasse das Hostel.
Die Morgendämmerung weckt die Amsel. Ihr Gesang begleitet mich durch die leeren Straßen von Paris Montparnasse auf dem Weg zum Bahnhof. Die Luft ist kühl und wirkt irgendwie gereinigt. In der Ferne erblicke ich den Eifelturm, wie aufregend! Ich freue mich auf den bevorstehenden Tag und auf all das was jetzt noch kommt. Es hat schon was Besonderes einfach so in den Tag hinein zu leben und sich um nichts Gedanken machen zu müssen, außer vielleicht, wie ich jetzt zum richtigen Bahnsteig komme. Seltsam, ich muß durch einen Seiteneingang in den Bahnhof gelangt sein, hier ist ja weit und breit kein Mensch, kein Zug, kein Kaffee. Nichts als leere Gleise, und die Anzeigentafel verstehe ich auch nicht. Ich laufe in sämtliche Richtungen, bis ich am Ende eines Tunnels Menschen und warmes Licht erkenne. Da muss der Haupteingang sein, und bestimmt gibt es dort auch eine verständliche Informationstafel und eine Bäckerei.
Tatsächlich wird am Ende des Bahnsteigs alles gut. Ich erhalte bald alle Informationen die ich brauche und genieße in Ruhe einen Café au lait. Jetzt kann nichts mehr schief gehen, denke ich und steige prompt in den falschen Zug. Weil mein Sitzplatz hier nicht existiert, merke ich den Fehler zum Glück rechtzeitig. Eine Mitreisende erklärt mir dann, daß mein Zug derjenige sei, der direkt hinter diesem hier auf dem selben Gleis steht. Geht es noch verwirrender?
Saint-Jean-Pied-de-Port
Ich bin in Bayonne angekommen. Ab hier ist es jetzt nur noch eine kleine Bahnfahrt bis nach Saint-Jean-Pied-de-Port.
Ich habe eine gute Stunde Aufenthalt und warte deshalb draußen in der Sonne. Als ich da so stehe und überlege, wo ich was zum Essen finden könnte, kommt ein fröhlich aussehender Mann mit grauem Bart aus der Bahnhofshalle und bleibt abrupt stehen, als er mich sieht. Er trägt einen Rucksack und ruft breit grinsend, »Do you speak English?«. Der freundliche Pilger heißt Andrew und kommt aus Australien. Wir verstehen uns auf Anhieb und freuen uns über unsere erste Camino Bekanntschaft und darüber nicht alleine auf die Bahn warten zu müssen. Wie kleine Kinder mit ihren neuen Spielsachen zeigen wir uns unser Equipment, insbesondere all das von dem wir glauben, was sich als ganz besonders nützlich erweisen wird. Zum Beispiel trägt Andrew einen Tennisball mit sich, mit dem er sich am Ende eines harten Wandertages die Fußsohlen massieren kann. Im Gegenzug präsentiere ich stolz meine faltbare Waschschüssel und meinen zwanzig Gramm leichten Mini-Kocher. Wir reden fast ununterbrochen, so daß eine weitere Pilgerin neben uns annimmt, wir seien seit langem befreundet und machen die Reise zusammen. Und ja, irgendwie fühlt es sich tatsächlich fast schon so an.

In Saint-Jean-Pied-de-Port gehen wir direkt zum Pilgerbüro. Hier bekommen die Pilger ihren Credential, den Pilgerpass, in dem sie ab jetzt idealerweise täglich Stempel sammeln, um am Ende beweisen zu können, daß sie den Weg tatsächlich gegangen sind. Wirklich wichtig sind allerdings nur die letzten einhundert Kilometer, um am Ende der Pilgerfahrt in Santiago ihre Urkunde, die Compostela entgegen nehmen zu können.
Wer gerne etwas mehr darüber lesen möchte, hier klicken.
Ich habe meinen Pilgerpass bereits und bin auch schon registriert. Trotzdem möchte ich hier meinen ersten Stempel und ein paar Informationen bekommen.
Bevor ich mich in meiner Unterkunft für heute Nacht einchecke, gehe ich mit Andrew zwei Bier trinken. Er erzählt mir, wie unselbstständig er in jeglicher Hinsicht sei und hofft, daß sich das auf dem Jakobsweg ändert. Es alleine von Australien nach Frankreich geschafft zu haben, sei für ihn schon ein Riesenerfolg.
Ich mag Andrews australischen Akzent sehr und höre ihm gerne zu. Anstelle von ‚yes‘ sagt er immer ‚yeeeh‘, manchmal auch ‚yeeeeeeeeh‘, wobei das wohl eher ein Andrew-Ding ist, weniger ein typisch australisches.
Wir verabschieden uns voneinander, ohne unsere Nummern ausgetauscht zu haben, denn uns ist beiden klar, daß wir uns spätestens auf dem Weg wieder sehen werden.
Mein 4-Bett Zimmer in der heutigen Herberge habe ich für mich alleine, was sehr angenehm ist. Weniger angenehm ist, daß es keine Bettlaken gibt. Das Kissen ist so dick und hart, daß ich meinen Kleidersack als solches benutze. Der wird in nächster Zeit aber sowieso mein Kissen sein, wenn ich im Zelt schlafe, also ist das hier schon mal eine kleine Kostprobe. Das Bad ist sehr dreckig, und alles wirkt eher schmuddelig.
Ich fühle mich etwas einsam, als ich durch die Gassen von Saint-Jean-Pied-de-Port laufe und ein schönes Lokal zum Abendessen suche. Da kommt mir doch tatsächlich Andrew entgegen, der auch ein Restaurant sucht. Und als wir so zusammen weiter gehen, treffen wir auf eine Japanerin, die scheinbar auch alleine unterwegs ist, und schon sind wir zu dritt. Die junge Frau heißt Aki und lebt in Kanada. Wir sind ein tolles Trio und erleben einen kurzweiligen Abend zusammen.
Andrew ist ungewollt lustig. Einmal meint er, er sei 51 Jahre alt, erwähnt aber auch sein Geburtsjahr, nämlich 1970. Ich zögere, weil das auch mein Geburtsjahr ist, und ich bin definitiv nicht mehr 51. »Sag mal, Andrew, meinst du nicht, dass du 52 bist?« Dieser Blick, als es in seinem Kopf arbeitet und dann die Erkenntnis kommt.
»Oh yeeeeh, crikey! Ich denke die ganze Zeit ich bin 51, dabei stimmt das gar nicht.« Darauf muß er erst mal einen trinken, und wir lachen uns kaputt.