Tag 1, 08. Juni 2023
Es ist noch dunkel, als ich aufwache. Über mir poltert es, als würden die Leute mit Skischuhen umher laufen. Die alten Holzböden knarren, und ich höre Stimmen auf dem Flur. Oh bitte, es ist doch noch mitten in der Nacht! Außerdem tut mein Kopf weh, ich möchte so gerne noch schlafen. Aber es nützt ja nichts, ich stehe auf. Habe ja heute auch noch was vor, nämlich die Pyrenäen überqueren!
Als ich runter in den Flur gehe, sehe ich ein paar Gäste bei frischen Croissants, duftendem Kaffee und Orangensaft am Frühstückstisch sitzen. Meinen Rucksack schon auf dem Rücken und im Begriff zu gehen frage ich die Gastgeberin, ob in meiner Buchung ein Frühstück enthalten sei. Ihre Antwort ist kurz und eindeutig: No! Keine Nachfrage, ob ich vielleicht dennoch frühstücken oder wenigstens einen Kaffee möchte, natürlich gegen Bezahlung, nein, sie dreht sich weg und hält es noch nicht einmal für nötig mich zu verabschieden, geschweige denn mir einen buen camino zu wünschen. Dann eben nicht. Wer brauch schon Frühstück vor einer über zwanzig Kilometer langen Wanderung und 1400 zu überwindenden Höhenmetern inklusive. Au revoir et bon débarras, denke ich, und um 6:30 Uhr verlasse ich die Herberge.
In einer Bäckerei hinter dem Fluß kaufe ich einen Cappuccino und ein halbes Baguette. Das Brot legt die Verkäuferin einfach so auf die Theke, eine Papiertüte kostet extra. Der Cappuccino schmeckt grauenhaft, und das Baguette erfüllt seinen Zweck.
Und dann ist es soweit. Ehrfürchtig setzte ich einen Fuß von den anderen, und mir wird bewußt, daß ich in den nächsten Wochen nichts anderes machen werde. Mein Jakobsweg hat begonnen.
Die Pyrenäen
Die erste Etappe des Jakobwegs hat es in sich, denn heute überquere ich die Pyrenäen. Direkt, als ich die Hauptgasse von Saint-Jean-Pied-de-Port hinter mir lasse, geht der Weg auf einer asphaltierten Straße steil bergauf. Es ist herrlich ruhig. Die aufgehende Sonne taucht die schöne Landschaft in ein warmes Licht, die Vögel zwitschern und die Hähne krähen. Genau so habe ich es mir vorgestellt. Entgegen meiner Befürchtung sehe ich nur wenig andere Wanderer, die zwar im Laufe des Tages immer mehr werden, die Massen sich aber wirklich in Grenzen halten.
Über mir kreisen Milane, und Schafe grasen auf den Weiden oder liegen dösend in der Sonne. Den Wegesrand säumen Fingerhut und andere Blumen, es ist wunderschön.
Irgendwas riecht die ganze Zeit nach Koriander. Da Koriander ein Gewürz ist, das ich so gar nicht mag, fällt mir das schwere Einatmen doppelt so schwer. Mir wird sogar ein wenig übel, deshalb beschließe ich an einer Stelle, wo es nicht riecht, Rast zu machen. Ich zwinge mich etwas vom Baguette zu knabbern, denn vielleicht habe ich auch einfach nur Hunger. Da kommt Andrew winkend den Hügel hinauf. Er und auch Aki haben im Vorfeld für heute Nacht ein Bett in der nur acht Kilometer entfernten Refuge Orisson gebucht, da sie am ersten Tag nicht gleich so viele Kilometer abreißen wollen. Bis dorthin ist es von hier aus gar nicht mehr so weit, ganz zu Andrews Bedauern, denn er möchte am liebsten weiter gehen. Wir verabreden uns auf ein Getränk in der Refuge, und Andrew geht weiter. Mir geht es durch das Baguette besser, und da mir vom zunehmenden Wind langsam kalt wird, mache ich mich bald auch wieder auf den Weg.
Die Refuge Orisson ist ein altes Steinhaus auf 780 m.ü.N. und liegt zwischen Saint-Jean-Pied-de-Port und dem Col de Bentar mitten in den Bergen. Im Inneren besteht sie hauptsächlich aus einer Bar und einem Restaurant. Die Betten für die Pilger befinden sich umliegend. Die Besitzer nehmen nur Pilger auf, die selbstständig zu Fuß den Berg rauf gekommen sind, jeder andere wird abgelehnt.
Es ist noch nicht viel los, als ich ankomme und mit Andrew einen Cappuccino schlürfe. Gerne hätte ich die angepriesene Suppe gehabt, aber dafür ist es laut Wirt noch zu früh. Da schneit auch schon Aki breit grinsend herein. Sie hat gehofft Andrew und mich hier anzutreffen und bestellt sogleich eine Runde Bier. Vernünftig, wie ich manchmal bin, entscheide ich mich jedoch gegen Alkohol, denn ich muss ja noch ein paar Kilometer weiter wandern, im Gegensatz zu den beiden. Statt Bier bekomme ich von Aki deshalb eine Banane. Sehr fürsorglich.
Kurz bevor ich aufbreche, ist auch die Suppe heiß. Als ich mir meinen Pilgerstempel am Tresen abholen möchte, bestellt ein junger Pilger vor mir in der Reihe einen Teller davon.
»Gibt es kein Brot?« fragt er den Wirt, als er die Schüssel entgegen nimmt. Dieser reagiert fast schon empört und antwortet mit stark französischem Akzent, »No, man, but you can buy sandwich.«
Der hungrige Pilger sagt nichts, schaut nur etwas verwirrt, als er mit seiner Suppe fort geht. Ich bin kurz davor mich einzumischen, denn sechs Euro für einen Teller Suppe in einer Pilgerherberge sehe ich als reine Abzocke. Sobald ich Ungerechtigkeit wittere, kann ich mich nicht zurück halten, und hier jetzt nichts zu sagen ist für mich eine echte Herausforderung.
Ich fühle mich wohl in Andrews and Akis Gesellschaft und wäre gerne geblieben, aber ich möchte heute noch Spanien erreichen. Wie sich das anhört. Aber es stimmt, Roncesvalles liegt bereits in Spanien, und zwar in der Region Navarra, im Baskenland. Irgendwo dort muss ich später einen Platz finden, wo ich unauffällig mein Zelt aufbauen kann. In Spanien ist das Wildcampen verboten, wird aber entlang des Jakobsweg gedultet, solange man sich an bestimmte Regeln hält, die da wären: Das Zelt nach Sonnenuntergang aufbauen und vor Sonnenaufgang wieder abbauen. Nicht sichtbar am Weg zelten aufgrund von visueller Verschmutzung, nicht auf privatem Land oder in einem Naturschutzgebiet, kein Feuer machen und keinen Müll hinterlassen. Ich glaube, das war alles.
Die Gegend erinnert mich jetzt sehr an Schottland. Bereits kurze Zeit später sehe ich kaum noch Bäume, was aber wohl weniger an der Höhe, sondern eher an den starken Winden liegt. Selbst die Schafe hier oben haben glattes Haar. Manche Windböen sind so heftig, dass sie mich fast umwerfen. Und der Rucksack ist so schwer. Durch sein Gewicht komme ich schneller ins Taumeln.
Die erste Wasserstelle kommt neun Kilometer und 550 Höhenmeter später. Es ist die berühmte Rolandsquelle. Hier soll Ritter Roland in der Schlacht von Roncesvalles im achten Jahrhundert sein Horn geblasen und Karl der Große aus der Quelle getrunken haben. Ich stattdessen sitze jetzt hier und esse meine Kartoffelchips. Auch ein bedeutender Moment, der zwar nicht in die Geschichte eingeht, für mich aber in jedem Fall bedeutender ist als Ritter Roland und sein Horn.
Mein Zeltplatz
In der Ferne erkenne ich die Mauern des Klosters von Roncesvalles. Ab jetzt heißt es Augen auf halten nach einem geeigneten Schlafplatz. Ich bin noch völlig unentspannt, denke immer, dass mich jemand beobachtet.
Kurz vor der Stadt komme ich an einem Hang mit Wildpferden vorbei, und dahinter ist ein Waldstück mit einer etwas abschüssigen Wiese davor. Hier sind kleine Schutzbunker in den Boden gebaut, es sieht fast so aus wie im Auenland von Herr der Ringe. Mir gefällt es hier, und ich beschließe mein Zelt genau hier am Waldrand aufzubauen. Der Boden ist allerdings etwas uneben, deshalb schiebe ich das umherliegende Laub so zusammen, dass es eine weiche gleichmäßige Fläche bildet. Nicht weit hinter mir weht der Wind böig einen Abhang herauf, so sehr, daß ich das Zelt abspannen muß.
Im Windschatten meines Zeltes koche ich mir ein paar Tütennudeln. Nicht besonders nahrhaft, aber ich werde morgen schon dafür sorgen was richtiges zwischen die Zähne zu bekommen. Jetzt bin ich einfach nur erschöpft und müde.
Als ich meine Nudeln auf der Wiese schnabuliere, stelle ich fest, dass es da viel windstiller und auch viel schöner und heller ist, als da drüben am Waldrand. Da ist auch ein Gebüsch, das mein Zelt mit Sicherheit verdeckt, so dass ich von der Straße aus nicht gesehen werde. Ich löse kurzerhand die Heringe und trage das zusammengebaute Zelt an meinen neuen Platz. Ja, so ist es besser. Und es ist wirklich prima getarnt!
Es ist noch nicht dunkel, als ich schlafen gehe. Die Grillen zirpen, und ein wenig unheimlich ist es schon. Angst habe ich keine, es ist nur alles so neu.
Als ich mich im Wald für die Nacht fertig mache, entdecke ich beim Pieseln den Kieferknochen eines Pferdes. Ich kann nur hoffen, dass das Tier an Altersschwäche gestorben ist und nicht durch Wölfe, oder so. In diesem Sinne, gute Nacht.
Strecke: 23km / Schritte: 43106
Folgendes Video habe ich auf YouTube gefunden. Es zeigt die Route von Saint-Jean-Pied-de-Port bis Roncesvalles in Zeitraffer. Die Musik in diesem Clip habe ich viel vor Ort auf meinem mp3-Player gehört, sie erinnert mich jetzt ganz stark daran. Bis auf das Ende, ich bin etwas knieschonender gelaufen, ist dieses original die Route, die ich gegangen bin.