Terradillos de los Templarios – Bercianos del Real Camino

Tag 21, 28. Juni 2023

Es sind heute morgen um sechs Uhr gerade mal vierzehn Grad Celsius, ziemlich ungemütlich. Ich packe schnell alles zusammen, baue das Zelt ab, wasche mich am Brunnen mit zwei Fingern und sehe zu, daß ich in Bewegung komme. Meine lange Wollhose und den Schlafpulli habe ich direkt angelassen. So wird mein Husten bestimmt nicht besser.

Schon nach kurzer Zeit erreiche ich ein kleines Dorf namens Moratinos, wo ich in einem kleinen Café ein Croissant esse und einen Milchkaffee trinke. Es ist gemütlich und warm hier und erinnert mich ein bisschen an die Teehäuser in Nepal. Als ich hier so sitze und langsam auftaue, denke ich zurück und realisiere, wie sich meine Wanderung eigentlich entwickelt hat. In den ganzen drei Wochen habe ich gerade fünf Mal im Zelt geschlafen. Zuerst waren andauernd Gewitter, dann wurde ich krank. Dann kamen wieder Gewitter, dann die große Hitze und jetzt eine Kältewelle. In den nächsten Nächten soll die Temperatur in den einstelligen Bereich sinken. Ich habe aber auch den entscheidenden Fehler gemacht, meinen guten Schlafsack nach Hause zu schicken. Mit dem könnte ich die Temperaturen leicht aushalten, ich ärgere mich wirklich darüber. Oder war es gar kein Fehler, sondern »von oben« so gewollt?
Ich habe einen Entschluss gefasst. Ich werde mein Zelt nach Hause schicken und ab jetzt wie jeder andere Pilger ausschließlich in Herbergen schlafen. Wollte ich zu Beginn einfach nur irgendwo zeltwandern, bin ich hier auf dem Jakobsweg immer mehr zum Pilger geworden, der den Weg nach Santiago de Compostela zu Ende gehen möchte. Ich bin mitten drin und kann nicht mehr raus, wie ein Sog oder ein Magnet, das immer stärker wird, je näher ich komme.
So verabschiede ich mich von meinem Ursprungsgedanken, dem »nur ich und mein kleines Zelt, einfach los laufen und sehen wo ich lande«. Abenteuerlich genug ist das Ganze immer noch, aber so wie ich es mir vorgestellt habe, funktioniert das hier nicht. Womit ich zum Beispiel auch nicht gerechnet habe ist, daß die Füße so sehr weh tun und ich dadurch jeden überflüssigen Schritt vermeide. Niemals würde ich auf die Idee kommen mal links oder rechts in einen Feldweg abzubiegen um zu schauen, ob ich da einen Platz zum Zelten finde. Völlig absurd dieser Gedanke. Hätte ich mir vorher so auch nicht gedacht. 

Ich laufe heute sehr beschwingt und fühle mich befreit, und alles kommt mir unbeschreiblich schön vor. Als wenn eine weitere Last von mir abfällt mit dem Gedanken ohne Zelt weiter zu ziehen. Kein langweiliges Warten auf den Sonnenuntergang mehr, damit ich es endlich aufbauen und schlafen gehen kann und keine Mücken die mich zerstechen, stattdessen jeden Tag eine Dusche und ein Bett in einer Herberge. Und sollte ich irgendwann mal kein Bett bekommen, so habe ich immer noch meine Isomatte. 

Ich überhole einen großen, schweren, etwas humpelnden jungen Mann. Er sieht meine Deutschlandflagge und spricht mich an. Er heißt Mika und kommt aus aus Ostfriesland und erzählt, dass auch er ein Zelt dabei hatte und es nach Hause geschickt hat. Den Spruch »Der Camino gibt dir, was du brauchst« habe ich schon öfter gehört, aber Mika setzt noch ein obendrauf und fügt hinzu, »aber nicht das, was du willst«. Stimmt, das habe ich begriffen.

Kurz vor Sahagún ist die offizielle Mitte zwischen Saint-Jean-Pied-de-Port und Santiago de Compostela, das Tor Centro Geografico Del Camino, ich werde es gleich erreichen. Big day. Aber zunächst komme ich an wunderschönen Feldern mit Sonnenblumen vorbei, es ist traumhaft. Mika sagt, »So habe ich mir das gewünscht«, und ich denke mir, ich bleibe etwas weiter hinter ihm, um ein Foto zu machen, das ihn vor all der gelben Pracht zeigt. Es ist ein wirklich schönes Foto geworden, aber Mika möchte es nichtmal sehen. »Ach nee, ich bin doch nur fett!« meint er, und hebt seine Arme, an denen seine Wanderstöcke hängen, zu einer verzweifelten Geste in die Höhe. Sein Satz hallt mir tagelang nach. Mika ist knapp über zwanzig und wirkt eigentlich wenig selbstbewusst. Trotzdem ist er hier, ganz alleine. Und er läuft diese lange Strecke. Wie kann er nur von sich behaupten, er sei doch nur fett? Ich wünschte, ich hätte ihm gesagt wie großartig er ist, aber in dem Moment bin ich einfach sprachlos.

In Sahagún gehe ich direkt zum Postamt, um mein Zelt nach Hause zu schicken. Die Postbeamtin spricht etwas Englisch und ist sehr hilfsbereit, auch mit dem Verpacken. Diesmal ist alles überhaupt gar kein Problem, ich habe einfach nur Adresse und Absender drauf geschrieben, zwanzig Euro bezahlt, und das war’s. Mein dickes Taschenmesser habe ich auch gleich mitgeschickt, ich habe es bisher zu selten gebraucht. 
Jetzt spüre ich meinen Rucksack tatsächlich kaum noch. Leider habe ich keine Gelegenheit ihn jetzt noch mal zu wiegen, aber ich schätze ihn momentan auf sieben Kilogramm maximal. Vielleicht vertue ich mich auch, immerhin habe ich an Rückenmuskulatur zugenommen und mich außerdem an die tägliche Last gewöhnt.
Ich treffe Manfred und Maria in der Nähe einer Kreuzung, gemeinsam setzen wir uns in ein Café und machen Rast. Maria freut sich offensichtlich über eine kleine Auszeit und geht eine nahegelegene Kirche besichtigen, ich hüte solange den Manfred für sie. Irgendwann fragt dieser mich dann, ob wir nicht zusammen weiter gehen wollen, was ich selbstverständlich verneine. 
Das verlorene Gewicht in meinem Rucksack gleiche ich in einem Supermarkt erst mal wieder aus, als ich ein paar Näpfe Milchreis mit Zimt kaufe und ein paar Kekse. Auch hier wäre es eigentlich das beste noch  auf der Türschwelle alles aufzuessen, so bräuchte ich nichts mit mir rum tragen.

In Bercianos del Real Camino komme ich einem Fünfbettzimmer in der Herberge La Perala noch vor dem Ortseingang unter. Sie ähnelt eher einer großen Lagerhalle oder einem Industriegebäude, aber sie sieht neu und sauber aus, und es gibt eine große Wiese davor. Drum herum sind nur Felder und die Hauptstraße nebenan. Alles ist sehr geräumig, und mir scheint es, als ob die meisten Pilger dran vorbeigehen, um woanders unterzukommen. Hier gibt es keine Küche, dafür aber ein Restaurant.
Als ich das erste Mal ins Zimmer komme, duscht jemand im Bad bei leicht geöffneter Tür. Es ist bislang nur ein weiteres Bett belegt. Anhand der Ausrüstung und Kleidung auf dem Bett erkenne ich schnell, dass es sich um eine Frau handeln muß. Kurz nach mir kommt dann noch ein italienischer Vater mit seinem Sohn dazu. Der Vater schnallt gar nicht, dass es sich um ein Privatbad für dieses Zimmer handelt und ist schon im Begriff die Tür auf zu reißen, ich kann ihn gerade noch davon abhalten. 
Ich hatte Recht, die ominöse Person unter der Dusche ist eine spanische Frau um die sechzig. Sie spricht nur wenig Englisch, und ihre Persönlichkeit empfinde ich als unangenehm. Sie wirkt schrullig auf mich, ist mir unsympathisch.

Für vier Euro gönne ich mir eine Waschmaschinen Wäsche. Die Herbergsmutter kümmert sich, die Wäsche hinterher aufhängen muß ich selbst. Es ist so warm, innerhalb kurzer Zeit ist sie trocken. Wie herrlich frisch gewaschene Wäsche duftet, noch dazu an der frischen Luft getrocknet.  

Für abends habe ich ein Ticket für ein Pilgermenü gekauft und bekomme auch was wirklich leckeres, nämlich Salat mit Thunfisch, dazu Pommes und ein dünn geschnittenes Steak, also das obligatorische Fleischläppchen. Ich bestelle Vorspeise und Hauptgang immer zusammen, dann ist es nicht so dröge. Sauce gibt es nie dazu, nach Ketchup muss ich immer fragen.

Für David wäre es hier das Paradies, denn zum Pilgermenü wird eine ganze Flasche Wein gereicht. Das alles zu einem Preis von gerade Mal dreizehn Euro. Ich muß da an Pamplona denken, als Andrew im Supermarkt einen Liter Wein für ein Euro fünfzig gekauft hat. Sicherlich nicht der beste Wein, aber für das Geld definitiv lohnenswert. Limo ist hier teurer.
Beim Essen setzt sich eine Koreanerin zu mir. Eigentlich wäre ich heute Abend lieber alleine, aber ich möchte auch nicht unhöflich sein, wenn sie schon meine Gesellschaft sucht. Mir war das gar nicht aufgefallen, aber sie sagt, wir wären uns heute ein paarmal unterwegs begegnet. Ich kriege echt nichts mehr mit. Ich und meine Gesichtserkennungsschwäche. Im Job ist das manchmal ein Problem, hab schon mal einen Passagier aus der Business Class, den ich kurz vorher zwei Mal bedient habe, zurück in die Economy geschickt, weil ich dachte, er habe sich in der Klasse geirrt. Peinlich, aber leider an meiner Tagesordnung, wenn ein Gesicht nichts markantes aufweist oder die Person mich an niemanden erinnert.
Die Konversation mit der Koreanerin ist schleppend, sie spricht nicht viel, und ihre Antworten sind knapp. Mir wird das zu anstrengend, deshalb entschuldige ich mich und gehe zurück aufs Zimmer.
Die doofe „Spanierin Frau“ – weiß auch nicht warum ich sie so nenne, ist noch nicht da, als ich mich hin lege. Als sie aber kommt, macht sie Krach als wäre sie alleine im Zimmer, völlig ohne Rücksicht. Sie sieht doch, daß hier jemand, in dem Fall ich, hier liegt und schläft. Ich stopfe meine Ohrstöpsel in die Ohren und kriege zum Glück nichts mehr mit.

Strecke: 23,1 km / Schritte: 36381

Heute kein Strecken-Video, da mein Weg ein anderer ist als der von Camino Time Lapse.

Ich freue mich über ein paar Worte