Tosantos – Atapuerca

Tag 14, 21. Juni 2023

Es ist bemerkenswert, wie gut ich auf dem Jakobsweg schlafe. Bisher habe ich keine Nacht schlecht geschlafen. Zu Hause liege ich oft wach und denke und denke, und das raubt mir den Schlaf. Hier ist alles gut. Das einzige was mir hier noch Sorgen bereitet ist meine Verdauung. Da ist Stillstand seit ich krank war. Das ist jetzt sieben Tage her, viel zu lange. Ich werde heute in Villafranca in den Supermarkt gehen und bestimmte Sachen einkaufen wie Joghurt, Obst und anderes gesundes Zeug. Hätte ich mal nicht so viele Kohletabletten in mich rein gestopft. Es dauert aber auch morgens oft zehn Kilometer, bis ich meinen ersten Kaffee komme, was nicht sonderlich unterstützend ist.

Heute morgen bekomme ich meinen heiß geliebten Kaffee bereits nach dem Aufstehen, um zwar um halb sieben in der Küche. Txema hat schon den Tisch gedeckt, es gibt in Stücke geschnittenes Baguette mit Aprikosenmarmelade und Plätzchen. Der Kaffee zeigt leider keine durchschlagende Wirkung, und so hoffe ich auf Erfolg nach meinem Joghurt später.

Es ist nebelig, und es nieselt heute morgen. Txema steht mit der Katze auf dem Arm vor dem Haus. Ich drücke ihn zum Abschied und muß fast weinen, als ich fort gehe. Sowas wie gestern habe ich noch nie erlebt.

Mit Musik auf den Ohren folge ich den gelben Pfeilen und wandere durch dichten Nebel raus aus Tosantos. Von der Landschaft ist nicht viel zu sehen, aber ich kann mir vorstellen, wie schön es hier ist. Die Temperatur ist angenehm, und der leichte Nieselregen sorgt für eine angenehme Erfrischung auf der Haut.

Apropos gelbe Pfeile, ohne sie würde sich wohl jeder hier verlaufen. Sie sind meistens mit gelber Farbe aufgesprüht, mal an Hauswänden, dann auf dem Boden oder an Felsen am Wegrand. Die Idee stammt von dem spanischen Priester Eliás Valiña, der in den achtziger Jahren persönlich damit begann die Pfeile aufzumalen um den Camino de Santiago besser auszuschildern. Die gelbe Farbe war angeblich ein Zufall, denn er verwendete Farbdosen, die von der Beschilderung der Hauptstraße N-IV übrig waren.
Dann gibt es noch ganz normale Schilder und auch Meilensteine, die den Weg weisen und zusätzlich noch die Kilometer bis zur Kathedrale in Santiago de Compostela anzeigen. Und manchmal sind von anderen Pilgern Pfeile aus Steinen auf den Weg gelegt.

In Villafranca öffnet gerade ein Mini Supermarkt, in dem ich Joghurt kaufe, ein Stück verpackten Kuchen, Ziegenkäse, eine spitze Paprika, einen platten Pfirsich, eine Orange und Nüsse. All das trage ich in einer Plastiktüte mit mir, ich sehe aus wie der letzte Hänger mit meinem gelben Micky Maus Poncho, den Sandalen und den Socken und dieser Tüte. Aber das interessiert niemanden, mich am aller wenigsten.

Direkt hinter Villafranca geht es bergauf in die Montes de Oca, der letzten geografische Erhebung vor der Meseta, dem kastilischen Hochland. Es ist so ruhig, ich höre nichts als das Plätschern der Regentropfen, die auf die üppige Vegetation fallen. Dann wechsele ich wieder zu meiner Lieblingsmusik, die die Stimmung noch untermalt. Es ist so schön durch diesen nebeligen Wald zu laufen, es hat etwas märchenhaftes.

Ich setze mich an den Waldrand, esse meine Orange und den Joghurt und verarzte meine Füße. Habe eine neue Blase am kleinen Zeh. Blöd. Außerdem habe ich aus Versehen Fruchtjoghurt statt Naturjoghurt gekauft. Auch blöd.
Es ziehen sämtliche Pilger vorbei, diejenigen, die in Belorado, dem Ort vor Tosantos gestartet sind und mich jetzt eingeholt haben, unter anderem Roly und ein Pärchen, das ich bisher noch nicht erwähnt habe, und zwar Hannah und Paddy aus Manchester. Den beiden bin ich das erste Mal begegnet kurz vor Villaruerta, einen Tag bevor ich krank wurde. Da saß ich völlig erschöpft in einem Tunnel unter der A12 auf einer Mauer, als sie vorbei kamen, und Hannah gab mir ein Fruchtbonbon. Ich werde die Geschmacksexplosion dieses Bonbons nie vergessen und auch nicht, mit welcher Herzlichkeit Hannah es mir gegeben hat. Sie sprudelte nur so vor positiver Energie. Vom ersten Augenblick an erinnerte sie mich optisch stark an meine Cousine Ela. Sie hat so etwas Warmes und Vertrautes in mir hervorgerufen.
Und hier sehe ich sie jetzt wieder nach so langer Zeit, und das, obwohl ich zwei Tage in Estella fest saß. Aber Hannah erklärt, daß sie öfter längere Pausen einlegen und alles in verschiedenen Etappen ablaufen. Gerne würden sie mir im nächsten Ort ein Bier kaufen, wo wir uns bestimmt wieder treffen, denn da würden sie etwas verweilen.

Ich erhebe mich von meinem Plätzchen am Waldrand und gehe weiter, als ich nach kürzester Zeit an einen richtigen Picknickplatz vorbei komme. Da ist ein Verkaufsstand mit Snacks und Kaffee, es läuft Musik, und es gibt Sitzgelegenheiten, aber das kann ja keiner wissen oder auch nur erahnen, hier mitten im Wald.

Rastplatz mitten im Wald

In San Juan de Ortega sitzen dann tatsächlich Paddy und Hannah gleich in der ersten Bar und genehmigen sich einen. Ich setzte mich auf ein Bier dazu, und Hannah erzählt, daß Richard auch irgendwo hier sei, ob ich Richard kennen würde. Etwa der nervige Richard aus Los Angeles mit der silbernen Zahnspange? Hannah meint, er sei ein Stück hinter uns und könne jeden Augenblick um die Ecke kommen. Seltsam. Irgendwie würde ich mich freuen ihn wieder zu sehen. Hannah glaubt auch, daß mit Richard mental irgendwas los ist, angeblich habe er in einer Kirche angefangen aus ganzer Kehle einen Song von Bruce Springsteen zu singen. Aber bestimmt ist das nur Camino Geschwätz, und es war am Ende ganz anders.
Paddy und Hannah planen heute noch bis ins sechs Kilometer entfernte Atapuerca zu gehen, und das ist auch mein Ziel.

Atapuerca wurde 1994 durch fossile Funde international bekannt. In verschiedenen Höhlen fand man achthunderttausend Jahre alte Knochen, die der Gattung Homo zugeordnet werden konnten.
Dort angekommen steuere ich direkt die erste Herberge an, und ich habe Glück noch ein Bett zu bekommen. Meine Füße tun mir zu diesem Zeitpunkt grenzwertig weh.
Mein Zimmer teile ich mir mit zwei Französinnen mittleren Alters und einem nicht unauffällig tätowiertem Italiener Mitte dreißig mit faulen Zähnen. Der Italiener hat auf dem Weg ganz viele Pilze im Wald gesammelt und sie abends in der Küche für seine Camino Freunde zubereitet. Die beiden Französinnen gehören auch dazu. Letztere warnen mich, daß Nicola – so heißt der faulzähnige Italiener, sehr laut schnarchen würde. Kein Problem, denke ich, ich hab ja Ohrstöpsel.

Irgendwann kommen dann auch Hannah und Paddy an, die waren wohl wieder in irgendeiner Bar und sind deshalb so spät. Sie nehmen sich, wie sie es immer tun, ein privates Zimmer. Sowas geht in einigen Herbergen, ist dann aber natürlich teurer.
Paddy bleibt faul auf der Herbergswiese liegen, während Hannah und ich in einen nahegelegenen Supermarkt gehen um was zum Essen und zu Trinken zu kaufen. Für mich gibt es heute ein Festmahl, nämlich eine Mikrowellen-Paella.

Auf dem Weg zurück zur Herberge, ich kann mich heute nur noch in Zeitlupe fortbewegen, kommt uns eine junge Frau entgegen, die ich auch schon ein paar Mal gesehen habe, und zwar Holly aus Leeds. Sie ist mir deshalb so aufgefallen, weil sie aussieht wie Otto Waalkes und ihr riesiger schwarzer unförmiger Rucksack ihr praktisch bis über den Hintern hängt.
Ich spreche sie an, wo sie jetzt noch hin will, denn jeden Augenblick fängt ein Gewitter an. Och, sagt sie, die Herberge hat kein Bett mehr frei, jetzt läuft sie halt noch in den nächsten Ort. Ich bin erschüttert, denn es besteht kein Zweifel, daß es gleich richtig krachen wird, und dann will sie noch sieben Kilometer weiter ziehen? Aber sie ist erwachsen, denke ich, Sorgen mache ich mir trotzdem. Holly sieht das aber ganz entspannt und macht sich auf den Weg.

Wir setzen uns auf die Wiese zu Paddy und schnaseln unser Bierchen, als es dann wirklich extrem anfängt zu schütten. Keiner rechnet damit, daß es nicht mehr aufhören wird, deshalb verabschieden wir uns nicht voneinander, als wir in unsere Unterkünfte flüchten. Tatsache ist, daß wir uns seitdem nie wieder gesehen haben.

Meine Mikrowellen Paella ist gar nicht so schlecht, aber Nicolas Tagliatelle mit Pilzsauce wäre mir lieber. Es duftet in der ganzen Herberge danach.

Ich liege erschöpft auf meinem Bett und denke an Holly. Es tobt ein höllisches Gewitter, und sie ist irgendwo da draußen, weil er hier kein Bett mehr für sie gab. Der Weg kann grausam sein. Natürlich hätte sie die Option gehabt im Vorfeld ein Bett für sich zu reservieren. Mich hätte es genau so treffen können, aber ich hätte notfalls noch mein Zelt gehabt. Hätte, hätte, hätte. Nützt jetzt auch nichts mehr. Hoffentlich kommt Holly gut in Cardeñuela Riopico an und findet dort eine Unterkunft.

Aki hat übrigens bereits die Meseta erreicht, und Andrew ist auch zwei Etappen voraus. Ich habe die Befürchtung, daß ich die beiden nie mehr wieder sehen werde. Das wäre sehr schade. Auch Lukas würde ich gerne nochmal sehen, aber von ihm weiß ich absolut gar nichts.

Als ich da so liege, höre ich Justin im Flur, wie er sich mit einem Franzosen unterhält. Offensichtlich geht es um die Frage, warum sie den Jakobsweg gehen, und sie scheinen beide den gleichen Grund zu haben: Depressionen! Wie bitte? Der nette Junge aus Australien, der so gerne Gitarre spielt und schon so erwachsen wirkt leidet unter Depressionen? Damit habe ich nicht gerechnet. Das berührt mich nun wieder, wegen David. Sie reden lange und offen im Flur vor meiner Tür, ich kann alles mithören. Am liebsten wäre ich raus gerannt und hätte Justin in den Arm genommen.

Strecke: 25,3 km / Schritte: 41669

Dieser Clip beginnt schon vor Tosantos (bei Minute 01:43) und endet vor Atapuerca.
Anhand des Clips erkenne ich jetzt wie schön die Umgebung ist, ohne Nebel. Allerdings wäre ohne den Nebel die Stimmung im Wald nicht so schön gewesen (etwa ab Minute 04:30)

Ich freue mich über ein paar Worte