Villafranca del Bierzo – O Cebreiro

Tag 29, 06. Juli 2023

Nach einem frisch gezapften Kaffee am Automaten packen Angela und ich es an. Es wird ein langer und harter Tag werden von beinahe dreißig Kilometern Länge, davon 1250 Meter nur bergauf. Wenigstens sind wir zu zweit und können uns notfalls gegenseitig abschleppen!

Und wie schon erwähnt, beginnt der erste steile Aufstieg direkt hinter der Herberge. Zu Anfang ist es nur eine kleine, sehr steile enge Straße, und ich finde es bemerkenswert, daß hier noch Häuser stehen. Schon bald wird aber die Straße zum Schotterweg, der so steil ist, daß es mich mit meinem Rucksack fast nach hinten zieht. Und um meine eigene Frage von gestern Abend zu beantworten, ja, offensichtlich haben wir den nötigen Elan, denn nach etwa einer Stunde sind wir über den Wolken.

Die Landschaft ist außerordentlich schön, um uns herum ist nichts als Wald, Sträucher und Heidekraut, und es ist völlig ruhig. Wäre da nicht… also, ich muss zugeben, daß ich mir manchmal schon gewünscht hätte hier oben alleine zu sein, denn Angelas Redebedarf ist immens, und die Themen wieder äußerst skurril. Irgendwas mit Darmbakterien des Partners zur eigenen Immunisierung, oder sowas. Ich kann das wirklich nicht wiedergeben, aber Angelas Worten nach schlußfolgere ich, daß ich nie mehr krank werden sollte, würde ich immerzu mit meinem Finger in Davids Hintern rumlaufen. Ich kann nur hoffen, daß ich da was falsch verstanden habe.
Manchmal kann ich gar nichts sagen, so verblüfft bin ich über Angelas abstrakte Gedanken und Thesen, aber ich höre zu und versuche zumindest alles zu verstehen.

Als sich mein Kopfkino beruhigt hat und ich wieder einen Blick für die Schönheit des Weges habe, schlage ich vor zu frühstücken. Wir finden auch schnell ein idyllisches Plätzchen am Waldrand und klettern ein Stück den Hang hinauf. Wie gut, daß wir unsere Isomatten haben, der Boden ist arg klamm, und es ist generell etwas frisch hier oben, aber die Aussicht ist fantastisch! 
Ich schnabuliere den Ziegenkäse, den ich mir gestern im Supermarkt gekauft habe, einen Joghurt und etwas Brot. Ein Kaffee wäre jetzt das Highlight, aber leider habe ich meinen Minikocher nicht mehr. Damit könnte ich uns jetzt einen schönen heißen Kaffee kochen, aber gut, so ein stilles Wasser hat ja auch was. 

Nach acht Kilometer müssen wir den schönen Höhenweg leider verlassen und nach Trabadelo absteigen, wo wir wieder auf die Normalroute stoßen. Aber wo ist der Weg? Zwar sehen wir den ein oder anderen gelben Pfeil, aber es ist nie so ganz klar, ob sie den Weg markieren oder den ahnungslosen Pilger zu irgendeiner Bar in Pradela lotsen. Wir irren querfeldein und erschrecken einen Waldarbeiter fast zu Tode, der uns aufgrund seines Hörschutzes erst sieht, als wir neben ihm aus dem Gebüsch springen. Der verstörte Mann weist uns den Weg in eine Richtung, die auch mein GPS bestätigt, so daß wir bald auf dem richtigen Trampelpfad runter nach Trabadelo sind. Von dort blicken wir runter auf die schreckliche Bundesstraße und hoffen, daß wir das schlimmste Teilstück auf unserer Bergtour umgangen haben, wohlwissend, daß wir jetzt auch noch eine ganze Weile nebenher gehen müssen.

Zunächst aber möchten wir in Trabadelo den Kaffee trinken, der uns oben im Wald verwehrt war, und kehren im Tal in die erste Bar ein, die wir finden. Alles wirkt wie ausgestorben, als wir die Treppen runter in den Hof einer Herberge steigen, nur wenige Pilger scheinen das handgemalte Schild mit der Aufschrift „Bar“ zu entdecken. Und als wir da so im Hof sitzen, unseren Milchkaffee schlürfen und ein riesiges Stück Schokoladenkuchen verdrücken, kommt tatsächlich Aki die Treppe runter gehumpelt, was für ein glücklicher Zufall! Für Aki ist diese Herberge Endstation, weiter wird sie heute wegen ihres Fußes nicht gehen. 
Es ist wieder so schön mit Angela und Aki zusammen, und ich wünschte, Akis Fuß wäre wieder gesund, so daß wir zu dritt weiter ziehen können. 

Rast am Fluss

Ab jetzt geht auch unser Weg viel an der N6 entlang, aber es ist nicht so schlimm, wie ich mir vorgestellt habe. Laut älterer Berichte mußten Pilger früher auf dieser stark befahrenen Straße seitlich auf der Fahrbahn gehen, mittlerweile wurden aber senkrechte Betonplatten als Trennung zwischen Fahrbahn und Fußweg montiert.

Zwischendurch kommen immer wieder Cafés zum Einkehren, und oft führt der Weg etwas abseits der Straße durch kleine Dörfer und am Fluss entlang, dem Río Valcarce.
In Las Herrerías setzen wir neben einer kleinen römischen Brücke am Flussufer unsere Rucksäcke ab und machen Rast. Ich ziehe meine Schuhe aus und bade meine Füße im eiskalten Wasser. Das Wasser ist so kalt, daß ich es nicht länger als ein paar Sekunden aushalte, es tut regelrecht weh. Und was macht Angela? Sie zieht sich ihren Badeanzug an und geht schwimmen. Diejenigen, die auch hier am Fluß ausruhen, starren ungläubig in ihre Richtung und können es ebensowenig fassen wie ich. 
»Die ist immer so«, sage ich zu einem jungen Pilgerpäärchen, das neben mir am Ufer sitzt und Angela mit weit aufgerissenen Augen beobachtet. 
»Ganz schön verrückt«, bemerkt der junge Mann, als er aus seiner Gesichtsstarre erwacht.
»Ja,« bestätige ich, »das ist sie.«
Aber selbst die hartgesottene Angela muß sich nach ein paar Schwimmzügen aus dem Wasser hinstellen und ausschnaufen, wahrscheinlich hat die Kälte ihr die Brust zugeschnürt. 

Hinterher sitzen wir noch eine Weile am Ufer. Ich mag Angela sehr. Vielleicht weil sie so anders ist als die meisten, die ich kenne. Sie erinnert mich an eine Freundin aus der Grundschule, die kleine Ute aus dem Aschenbruch in Bochum-Wattenscheid, wo ich aufgewachsen bin. Ute war mir sehr ähnlich, weil sie, genau wie ich, lieber ein Junge gewesen wäre. Zusammen haben wir nach der Schule in den Feldern rund um den Friedhof von Günnigfeld gespielt, sind auf Bäume geklettert, haben mit Schwertern aus Stöcken gekämpft und Obst und Gemüse aus den Schrebergärten geklaut. Ute war immer dreckig im Gesicht, insbesondere um den Mund herum, weil sie sich mit ihren schmutzigen Räuberfingern all die Beeren und sonstigen wild wachsenden Köstlichkeiten einverleibt hat. Wir haben stundenlang im Kornfeld gesessen, das wir vorher an einer Stelle platt getrampelt und als unser Revier bestimmt haben. Dann haben wir die Getreidekörner aufgepult und gegessen, bis ich mir eines Tages aus Versehen danach die Augen gerieben habe und kurz darauf nichts mehr sehen konnte. Meine Augen waren komplett zu geschwollen, es war mein erste von vielen Heuschnupfen Attacken bis hinein ins junge Erwachsenenalter. 
Wie auch immer, irgendwann zog Ute mit ihren Eltern nach Bonn, ich war am Boden zerstört. Nie wieder hatte ich so eine Seelenfreundin wie sie. 
Ich erwache aus meinen Erinnerungen, als Angela ihren Pfirsich aus Versehen in den Dreck fallen lässt. Sie hebt ihn auf, legt sich mit ihrem nassen Körper auf das sandige Ufer und wäscht ihn im Fluß ab. Ich ertappe mich, wie ich beginne zu lächeln, während ich sie dabei beobachte. Angela ist Ute.

Irgendwann ab Vega de Valcarce geht es wieder richtig steil bergauf durch den Wald, damit habe ich überhaupt nicht mehr gerechnet.
In La Faba, einem urigen kleinen Bergdorf, kommen wir an einer Bar vorbei. Es ist bereits später Nachmittag, und die Sonne brennt heiß, trotz der Höhe. Da es nicht mehr weit ist bis O Cebreiro, beschließen wir hier was zu trinken. Wir haben Platz unter einem Sonnenschirm gefunden und sitzen gemütlich gegenüber der Bar am Wegrand, und ich komme mir vor wie in einem der Bergdörfer in Nepal, es ist herrlich. Und weil Angela und ich uns für »Superfrauen« halten, gönnen wir uns statt Milchkaffee zur Abwechslung ein großes Bier. Sind ja nur noch fünf schlappe Kilometer, denken wir. Aber die haben es in sich. Es geht ausschließlich bergauf, und ich könnte im Gehen einschlafen. Nach all der Anstrengung saufe ich dieses Bier in der Hitze, und jetzt komme ich kaum vorwärts. Angela scheint es gut zu gehen, zumindest ist sie ein ganzes Stück vor mir. Ich meine, mir geht es auch nicht schlecht, ich kriege halt nur die letzten Kilometer nicht so richtig auf die Reihe. Es ist, als ginge ich zwei Schritte vorwärts, nur um dann wieder einen Schritt zurück zu taumeln. 

O Cebreiro und das Hostienwunder

Kurz vor O Cebreiro erreichen wir schließlich Galizien, die Grenze ist mitten im Nirgendwo. Jetzt ist es offiziell, ich bin bald am Ziel. Nicht darüber nachdenken, nicht darüber nachdenken… 

O Cebreiro wurde übrigens bekannt durch ein Wunder, das sich im 14. Jahrhundert in der Kirche Santa María la Real zugetragen haben soll. Es heißt, ein ungläubiger Mönch sollte eine Messe für einen gläubigen Bauern halten, der trotz eines Unwetters den Berg herauf kam, um der Messe beizuwohnen. Der Mönch, der nicht an die reale Gegenwart Jesu in der Eucharistie glaubte, verachtete den Bauern, weil er nur wegen ihm die Messe zelebrieren sollte. Als er den Gläubigen widerwillig segnete, verwandelten sich Hostie und Wein in Fleisch und Blut, was den ungläubigen Mönch schließlich bekehrte.
Das galizische Wappen zeigt den Kelch, mit dem das Blut aufgefangen wurde. Er ist heute noch als “Heiliger Gral” in der Kirche zu besichtigen.

Da ist der arme Bauer den ganzen Weg von Barxamaior nach O Cebreiro hoch gestiegen, nur für die Segnung und etwas Wein und Brot. Er war jedenfalls schlauer als ich und hat mit dem Alkohol gewartet, bis er oben war.

Wir checken in der günstigsten Herberge ein, denn das ist die einzige, die um diese Zeit noch freie Betten hat. Schon bei der Ankunft stinkt es erbärmlich nach Kloake. Wir bekommen natürlich ein Stockbett zugeteilt, das komplett eingepfercht zwischen anderen steht, dabei ist vorne noch alles frei. Egal, ich bin so müde, mir ist jetzt eigentlich alles egal. Ich nehme sogar freiwillig das obere Bett. Nach 29 Kilometern durch bergiges Terrain bei einer Nettolaufzeit von ungefähr zehn Stunden bin ich einfach nur groggy. Ich möchte jetzt duschen, dann essen, dann schlafen.

Ich sitze auf meinem Bett und filme kurz in die Runde

Die Duschkabinen haben keine Tür, auch egal. Das heiße Wasser tut trotzdem gut, und am liebsten wäre ich stundenlang darunter stehen geblieben. Der Kloakenmief und mein Hunger treiben mich dann aber trotzdem raus, und schon bald sitzen Angela und ich in einer Bar in der Nähe und essen das obligatorische Pilgermenü. Im Preis inbegriffen ist jeweils eine Flasche Wein, und da mir ja alles egal ist, nehme ich die heute gerne.
Zu uns gesellt sich ein junger Mann namens Niels, der hört, wie wir Deutsch miteinander sprechen und freut sich über etwas Gesellschaft. Da auch er eine ganze Flasche Wein bekommt, wird es für ihn und Angela noch ziemlich lustig, ich hingegen habe genug und möchte ins Bett.

Es ist seltsam, ich bin so müde und erschöpft, aber ich kann trotzdem nicht richtig einschlafen. Als Angela später kommt, bin ich plötzlich unendlich froh sie zu sehen.
»Oh, du bist zurück! Geht es dir gut?« frage ich schlaftrunken.
»Mir geht es gut, danke.« Angela lächelt.
»Bleibst du jetzt hier? Gehst du auch nicht mehr weg?«
»Natürlich bleibe ich hier, wo sollte ich denn sonst hin gehen?« bemerkt sie verdutzt, woraufhin ich mich zufrieden umdrehe und beruhigt einschlafe.
Am nächsten Morgen weiß Angela nichts mehr von unserer Unterhaltung. Entweder war sie zu betrunken, oder ich habe geträumt. 

Strecke: 29,2 km / Schritte: 49745

Ich freue mich über ein paar Worte