Tag 25, 02. Juli 2023
Ich verlasse Villar de Mazarife noch in der Dunkelheit.
Und es beginnt direkt am Ortsausgang: Das längste und geradeste Geradeaus, das ich je gesehen habe! Zuerst erkenne ich das Ende der Straße nicht, weil es dunkel ist und später erkenne ich es nicht, weil da keins ist, jedenfalls nicht in den nächsten acht Kilometern. Das muss man sich mal vorstellen, eine asphaltierte Straße, die auf acht Kilometern total gerade verläuft. Es gibt sicherlich längere, aber sowas zu Fuß zu gehen macht schon was mit einem.
Schön aber öde
Ich befinde mich in der Páramo Gegend, was übersetzt soviel wie baumfreies Ödland bedeutet. Alle Orte in dieser Gegend haben del Páramo im Namen und sind mit noch längeren Geradeaus-Straßen verbunden. Überall verlaufen Bewässerungskanäle, in denen Frösche laut quakend den Tag ankündigen. Die einzigen Abzweigungen links und rechts sind Feldwege für die Bauern mit nur noch mehr Bewässerungsgräben entlang riesiger Parzellen von vorwiegend Getreidefeldern.
In der Entfernung kommen Lichter auf mich zu, ich nehme an ein Auto, aber es kommt einfach nicht näher. Es dauert ohne Übertreibung mindestens fünf Minuten, bis ich erkenne, daß es wirklich ein Auto ist.
Anhand der Karte sehe ich am Ende der Straße eine kleine Biegung, und dann beginnt das gleiche noch mal auf ähnlich langer Strecke. Ein Wahnsinn.
Auf diesem ganzen Wegstück passiert nicht viel Aufregendes, außer natürlich die Gedanken, die man so hat und die Erkenntnis, wie lang acht Kilometer sein können. Außer einem toten Otter am Straßenrand und ein paar wenigen anderen Pilgern ist da niemand. Ich glaube sogar, in der ganzen Zeit fuhr gerade mal ein Auto an mir vorbei.
In der Mitte der zweiten langen Hälfte, die übrigens keine asphaltierte Straße mehr ist sondern harter Kiesweg, führt der offizielle Weg durch den kleinen Ort Villavante. Ich sollte mich eigentlich leicht rechts halten und ihm durch das Örtchen folgen. Stattdessen entscheide ich mich für weiter geradeaus, denn ich sehe auf der Landkarte, daß die Route demnächst eh wieder zurück auf diesen Weg führt, und so habe ich am Ende einen Kilometer gespart.
Also, ich möchte nicht aus der Reihe tanzen, und es tut mir Leid wenn ich Regeln breche. Aber durch die verlockende Abkürzung mache ich etwas verbotenes, nämlich über dicke Eisenbahngleise steigen, die den Weg kreuzen. Auf der offiziellen Route hätte ich sie wohl über einem offiziellen Übergang überquert. Lo lamento.
In Puente de Órbigo bekomme ich nach fünfzehn Kilometern endlich meinen ersten Kaffee und was zum Essen, und zwar in einem Café mit einem herrlichen Garten im Hinterhof. Die Tische stehen unter Sonnenschirmen zwischen Palmen und freilaufenden bunten Hühnern. Hier kann man es aushalten.
Ab jetzt ist der Weg wirklich abwechslungsreich, aber dafür auch schwerer zu gehen durch den teilweise unbefestigten Boden, ich spüre jeden einzelnen Stein unter den Sohlen.
Die Sonne steht hoch am Himmel, kein Wölkchen ist in Sicht. Es ist so ein schöner Weg, und dann steht da mitten in der Prärie an einem kleinen Rastplatz unter einem Baum die Spanierin-Frau und unterhält sich mit zwei anderen. Mir entgleisen schlagartig die Gesichtszüge, aber ich bin freundlich und grüße in die Runde. Die Spanierin-Frau dreht sich um, erkennt mich und läßt ebenso die Kinnlade fallen. Nunja, kann man nichts machen, wir haben nunmal den gleichen Weg.
Die Oase
Ich habe bereits zwanzig Kilometer geschafft, meine Füße tun mäßig weh. Die letzten zehn schaffe ich locker, auch wenn ich nicht mehr so zügig gehe wie heute morgen.
Links und rechts sind weiterhin viele Weizenfelder, wilde Blumen säumen den Wegrand.
Da ist auf einmal mitten im Nirgendwo eine kleine Wohlfühl-Oase. Ein junger Typ hat sich hier niedergelassen und für vorbei kommende Pilger einen urig schönen Aufenthaltsort geschaffen. Es ist fast nicht zu beschreiben, so einladend schön ist es hier. In der Mitte steht ein großer Tisch mit allerhand kleinen Leckereien, wie Wassermelone, Keksen, Säften, Kuchen, Obst, Kartoffelchips und so weiter. Man kann sich nehmen so viel man möchte und gibt dafür eine Spende, die man einfach in die Mitte des Tisches legt. Alles ist so liebevoll hergerichtet mit Hängematten und Bänken unter schattigen Bäumen neben bunt angemalten Bretterbuden, in denen man auch ausruhen kann.
Was ich zu diesem Zeitpunkt natürlich nicht ahnen kann ist, daß vier Stunden nach mir Angela hier eintreffen und die Nacht hier verbringen wird, unter freiem Himmel, nur auf ihrer Isomatte mitten in der Natur. Wie herrlich, hätte ich das gewusst, ich wäre auch hier geblieben. Von Angela erfahre ich später auch, daß der Typ David heißt, hier draußen lebt und die Pilgerspenden sein Unterhalt sind. Das Wasser, das David für sich und die Pilger benötigt holt er von einem Brunnen in ziemlicher Entfernung in großen Kanistern, die er mühsam mehrmals am Tag hier her schleppt.
La Mujer Española
Die Spanierin-Frau ist jetzt auch angekommen, ich schaue gerade zu ihr rüber, als sie in ein Stück Wassermelone beißt. Offensichtlich hat sie unterwegs einer jungen Frau geholfen, die sich wohl den Arm gebrochen hat. Ein Krankenwagen kommt und holt die verletzte Frau ab, die Spanierin-Frau bleibt hier.
Natürlich läuft sie auch später wieder vor mir her. Gehe ich schnell, geht sie auch schnell, gehe ich langsam, geht sie auch langsam. Irgendwann bin ich kurz hinter hier und im Begriff sie zu überholen. Außer uns beiden ist kein Mensch zu sehen weit und breit. Okay, denke ich, ich kann nicht einfach wortlos an ihr vorbei gehen, zumal wir fast gleich schnell sind und ich somit gezwungen bin einige Meter auf gleicher Höhe mit ihr zu gehen. Mal sehen, wie sie reagiert, wenn ich sie freundlich anspreche.
»Hola!« Ich lächele. Sie dreht sich um.
»Hola«, sagt auch sie und guckt wieder nach vorne. Begeistert sieht sie nicht aus.
Zweiter Versuch, ich übersetze direkt auf Deutsch.
»Danke, dass sie der jungen Frau geholfen haben. Ich hatte ihre Verletzung gar nicht bemerkt, als wir uns zuvor begegnet sind.«
Jetzt lächelt sie gequält und bemüht sich einiger Worte auf Englisch.
»Ach, Frau nicht schlimm, gebrochen nicht, Arm nur raus Schulter.«
Das war es dann aber auch schon wieder, viel mehr kriege ich aus ihr nicht raus.
Zumindest kann keiner sagen, ich hätte es nicht versucht. Bestimmt ist sie eine gute Person, ja, ich bin sogar davon überzeugt, aber trotzdem, irgendwas ist da, sie mag mich genauso wenig, wie ich sie. Fast bis zum bitterem Ende läuft sie immer irgendwie in meiner Nähe, dabei möchte ich sie eigentlich gar nicht mehr sehen müssen, auch nicht von hinten.
Kurz vor Astorga tun mir meine Füße so sehr weh, dass ich es fast nicht mehr aushalte. Obendrein ist es sehr heiß, eine regelrechte Tortour.
Ich muss über eine Fußgängerbrücke, um eine Hauptstraße zu überqueren. Diese Brücke führt auf langen Zickzack-Wegen nach oben und auf der anderen Seite wieder runter. Das sind gefühlt fünfhundert Meter Weg für zehn Meter Entfernung.
Am anderen Ende angekommen muß ich mich hinsetzen, ich kann nicht mehr. Zwei andere Pilger sitzen schon da auf einem Felsen, eine von ihnen hat beschlossen ihren Camino hier zu beenden und ist glücklich mit der Entscheidung. Ich wünsche ihr, dass es so bleibt und sie es nicht hinterher bereut.
Ich muss sagen, trotz meiner höllischen Schmerzen bin ich so weit wie noch nie davon entfernt aufzugeben auf diesem Camino. Ich bin an einem Punkt angekommen, an dem ich mir nichts anderes mehr vorstellen kann, als jeden Tag einfach drauf los zu laufen. Gelben Pfeilen zu folgen und sich um nichts anderes Gedanken machen zu müssen als darüber, wo ich eine Tasse Kaffee bekomme und wo ich die nächste Nacht schlafen werde, gehören mittlerweile zu meinem Alltag. Ich liebe es.
Da kommt sie die Brücke runter, die Spanierin-Frau. Sie sagt nichts, setzt sich auch auf einen der Felsen und prustet erschöpft im gesellschaftlichen Einklang mit uns anderen. Ich deute dies als angenommene Friedensgeste, ihre womöglich einzige Möglichkeit zu sagen, ‚hey, ich bin gar nicht so schlimm, und du bestimmt auch nicht‘, weil die Sprachbarriere keine andere Kommunikation zulässt. Mit diesem Gedanken kann ich mich gut arrangieren und die Sache für mich abhaken. Ab hier sehe ich die Spanierin-Frau übrigens nie wieder.
Astorga
Meine Herberge, ein altes Herrschaftshaus aus dem achtzehnten Jahrhundert, liegt neben der Kathedrale Santa Maria auf der anderen Seite der Stadt. Es gibt eine Küche, in der man sich was kochen kann und eine gemütliche Sitzecke. Der Innenhof wird von trocknender Wäsche verdunkelt, die im ersten Stock auf Wäscheleinen hängen, die von einer Wand zur anderen gespannt sind. Hier oben sind auch die Waschräume und Schlafsäle mit Wänden aus massivem Stein, hoffentlich stoße ich mich heute Nacht nicht.
Ich bekomme das obere Bett eines Stockbetts in einem Zimmer voll mit übergewichtigen Männern, dessen Sprache ich nicht mächtig bin. Ich bin froh neben einem Fenster schlafen zu können, das man öffnen kann, und das werde ich auch, so wahr mir Gott helfe.
Ich habe großen Hunger, und bevor ich irgendetwas anderes mache, suche ich ein Restaurant. Glücklicherweise finde ich eins in schmerzfußläufiger Entfernung, wo ich einen gemischten Salat und frittierte Kartoffelscheiben mit einer scharfen Soße bekomme, dazu ein großes Bier. Es schmeckt sehr gut, und ich esse alles auf.
Ich laufe noch etwas durch die Gegend, denn ein wenig möchte ich schon sehen von Astorga, aber mit jedem Schritt sinkt meine Motivation dann doch. Mit einem Eis am Stiel in der Hand humpele ich zurück zur Herberge, lege mich auf mein Bett und schlafe ein. Wie heiß es ist. Später ziehen Wolken auf, und ich höre das Grollen eines Gewitters in der Ferne.
Um halb zehn kommen noch ein paar Spanier, die die restlichen freien Betten im Saal beziehen. Sie reden viel und laut, so als wären sie alleine. Bin ich die einzige hier, die das nervt? Warum machen mich eigentlich so viele Sachen wahnsinnig? Hauptsächlich sind es Geräusche, auf die ich empfindlich reagiere, das war früher auch schon so. Bei Essgeräuschen gehe ich steil, erst recht wenn dabei gesprochen wird. Wenn ich als Kind mit Leuten am Tisch saß, dessen Kauen ich hören konnte, insbesondere wenn es im Kiefer knackte oder im Hals so komisch grunzte, hat mich das völlig aggressiv gemacht. Ich konnte dann oft nicht selber weiter essen, weil mir jeder Bissen vor Anspannung im Hals stecken blieb. Wenn Amerikaner reden, ist mir das zu viel. Das klappern von Wanderstöcken auf dem Boden ist mir zu viel. Das Klatschen an den Fersen, wenn jemand Flip Flops trägt, ist mir zu viel. Daß mich solche Dinge überhaupt nerven, ist mir zu viel.
Ich hätte Lust auf mehr Gelassenheit. Vielleicht sollte ich mir für die ein oder andere brisante Situation eine Strategie ausdenken.
Strecke: 31,4 km / Schritte: 44982