Zubiri – Pamplona

Tag 3, 10.Juni 2023

Um halb sieben ist meine Nacht vorbei. Lange habe ich nicht mehr so gut geschlafen. Die meisten meiner Mitschläfer liegen noch im Bett, also packe ich auf meiner Matratze sitzend alles so leise wie möglich. Sollte ich bald wieder in einer Herberge schlafen, werde ich mir eine andere Strategie ausdenken.

In der Bar frühstücke ich ein öliges Toast mit Ei. Die Spanier immer mit ihrem Öl, ich weiß nicht, ob ich mich daran gewöhnen kann.
Ich entdecke Anne am Nachbartisch, die Französin von gestern, aber ich gehe nicht zu ihr rüber. Es scheint mir, sie wolle lieber alleine sein. Mir ist jetzt auch nicht unbedingt nach Konversation. Aber schon witzig, wie bekannte Gesichter plötzlich wieder woanders auftauchen.
Später läuft Anne dann hinter mir und wir kommen doch noch ins Gespräch. Ich staune über ihr gutes Englisch, denn in der Regel sind Franzosen ja eher zurückhaltend was Fremdsprachen angeht. Sie erklärt, dass sie die englische Sprache sehr mag und sie deshalb so gut kann. Wir gehen ein Stück zusammen, reden über dies und das, und Anne unterrichtet mich etwas in Sachen Meditation. Dann bleibt sie zurück um Fotos zu machen, und ich laufe weiter. Ich stelle fest, dass ich wirklich lieber alleine laufe. Unterhaltungen lenken mich von der Umgebung ab und natürlich auch von den eigenen Gedanken. Bestimmt werde ich das hin und wieder anders sehen, aber im Moment ist das noch so. Anne geht es sicher ähnlich, ich glaube, das war auch der wirkliche Grund warum sie zurück blieb.

Es geht heute wieder durch schöne Landschaften, aber auch entlang gepflasterter Straßen, die jedoch kaum befahren sind. Steile Passagen sind auch wieder dabei, stellenweise über Treppenstufen und glatte Steinplatten. Letztere sind zwar nicht unbedingt rutschig, aber dennoch nur im Trippelschritt machbar.

Michael

Ein erneuter heftiger Abstieg vor dem Ort Zuriain. Vor mir läuft ein tollpatschig wirkender kräftiger Mann Mitte fünfzig. Er trägt einen großen schwarzen Hut, eine dicke Brille und fuchtelt ungeschickt mit seinen Wanderstöcken herum.
»Take it easy«, sage ich zu ihm, als ich ihn überhole.
»It’s not easy«, entgegnet er mürrisch und murmelt dann noch irgendein deutsches Wort hinten dran.
»Du bist ja Deutscher«, stelle ich laut sagend fest, was er mit einem überheblichen »Natürlich« bestätigt.
Ja. Natürlich ist er Deutscher, und zwar ein ganz typischer. »In Deutschland bräuchte man für so einen Weg eine Genehmigung!« schimpft er, völlig überfordert mit den Steinstufen und den matschigen Riefen im Boden auf diesem Abstieg.
»Wie für fast alles in Deutschland.« bemerke ich.
»Das ist auch gut so!« meint er. Auf so einen habe ich jetzt echt noch gewartet. Ich wünsche dem Misepeter einen buen camino und mache mich vom Acker.
»Wie weit ist es noch bis Zuriain?« ruft er mir hinterher.
»Weiß nicht«, antworte ich, »ich laufe einfach nur.« Und jetzt nichts wie weg.

Wie schön es ist hier im Wald am Rio Arga entlang zu laufen. Ich setze mich einen Moment ans Ufer und genieße die Stille. Alles was ich höre sind die Vögel und das Plätschern des Wassers, solange, bis wieder neue Pilger daher kommen. Ich höre sie schon von weitem, entweder am Klacken ihrer Wanderstöcke oder weil sie nonstop quasseln.

Hinter einer Kurve führt eine Brücke über den Fluß in die Ortschaft Zuriain. Direkt an dieser Brücke ist herrlich gelegen eine Herberge mit Gartencafé, in das ich einkehre. Habe das hier kurz gefilmt:

Hier kaufe ich mir ein Tortilla Sandwich zum Mitnehmen, lasse mir einen Stempel geben und genehmige mir eine kalte Cola.
Als ich da so sitze und meine Pause genieße, platzt der Deutsche ungefragt zu mir und läßt sich schnaufend auf die Bank mir gegenüber an meinen Tisch fallen.
»Ach,« sage ich nicht sonderlich erfreut, »du auch hier…?«
»Was gibt es denn hier so?« fragt der Deutsche, wohl davon ausgehend, dass ich seine Gesellschaft begrüße.
»Das übliche. Tortilla und Bocadillos.«
Er steht auf, geht an die Theke und kommt wieder mit einem Tablett, und als er es abstellt, ungeschickt wie er mir bereits vorkam, schmeißt er seinen Kaffee um, und alles läuft ihm aufs Tablett und über seine Hose.
»Heiß?« frage ich leicht schadenfroh.
»Ja sicher, und wie, was denkst du denn?« antwortet er gereizt und beginnt seine Hose abzutupfen.
»Warte, ich hole dir einen neuen Kaffee.« Der arme Kerl tut mir fast schon Leid, weil er so ist wie er ist.
Als ich nach erneutem ewigen Anstehen an der Theke zum Tisch zurück komme, futtert der Deutsche sein Bocadillo und sagt kein Wort, als ich ihm den Kaffee hin stelle. Och, nichts zu danken, sage ich leise vor mich hin, während er damit beginnt sich wieder über den Weg auszulassen. Gestern habe er schließlich auch schon ein Taxi benötigt, der Weg sei ja auch unmöglich, wo doch so viele Leute immer hier herlaufen, den müsse man doch besser ausbauen, und sowas alles. Ich gehe nicht darauf ein und denke mir nur meinen Teil.
Der Misepeter, der übrigens Michael heisst und aus Frankfurt kommt, kauft sich dann noch ein zweites Bocadillo und möchte wohl noch etwas hier sitzen bleiben. Schön für ihn, mir reicht’s für heute. Ich wette, er fährt spätestens morgen mit dem Taxi zum Flughafen, denn der Weg ist ja schließlich eine Frechheit. Ich nehme vorweg, ich sehe Michael nicht wieder.

Mein oberer Po Muskel auf der rechten Seite tut mir seit heute Vormittag weh. Er sticht bei jedem Schritt und wird immer schlimmer. Das kommt bestimmt von dem ungewohnten Gewicht auf den Hüften vom Rucksack. Oder von einer unglücklichen Drehung vorgestern, als ich in den Pyrenäen ein Panoramabild gemacht habe, da hatte ich einen kurzen Schmerz, so als hätte ich mir was gezerrt.
Zwischendurch muss ich mich immer wieder hin setzen, und manchmal glaube ich, ich kann nicht weiter laufen, so doll wird der Schmerz. In jedem Fall muss ich es bis zum nächsten Dorf schaffen, da kann ich mir zur Not ein Bett in einer Herberge nehmen.

Als ich aber im nächsten Dorf Villava ankomme, möchte ich am liebsten nur weg laufen, so gruselig wirkt dieser Ort auf mich. Es sieht dort aus wie im tiefsten Ostblock, hier bleibe ich unter keinen Umständen. Ist vielleicht ein Zeichen und soll so sein, also Zähne zusammen beißen und weiter laufen.


Frustriert setze ich mich im nächsten Ort auf ein Mauer. Die Schmerzen sind teilweise unerträglich. Es sind noch fünf Kilometer bis Pamplona, das muss ich schaffen, auch wenn ich auf allen Vieren da ankomme. Und in jedem Fall werde ich da einen Ruhetag einlegen müssen, sonst kann ich spätestens in ein paar Tagen den Jakobsweg vergessen.

Die Infrastruktur ändert sich merklich, je weiter ich mich der Stadt nähere. Ich gehe bald nur noch an Hauswänden viel befahrener Straßen entlang, es ist heiß, staubig und laut. Ich bewege mich im gefühlten Schneckentempo, so dass Pilger die mich überholen fragen, ob ich okay sei und ob sie mir helfen können.

Pamplona

Nach Stunden der Qual erkenne ich eine Festung. Ich bin jetzt so nah an meinem Etappenziel und weiß es gar nicht. Ich erwarte hinter der Stadtmauer eine Kirche oder sowas wie einen Schlosshof, über den der Weg dann weiter geht. Stattdessen eröffnet sich vor mir die Altstadt von Pamplona. In dem Augenblick, in dem ich durch das Frankentor gehe, dem Puerta Fráncia, bin ich mitten im Geschehen. Ich bin umgeben von Bars, Einkaufsläden, Cafés und feiernden Menschenmassen. Damit habe ich nun gar nicht gerechnet. Gefühlt alle Einwohner Navarras tummeln sich in den engen Gassen der Pamploner Altstadt, und ich humpele mitten durch die Menge und weiß gar nicht wo ich überhaupt hin soll. Zelten kann ich hier natürlich nicht, deshalb steuere ich die erste große Herberge an, die ich sehe. Aber da hängt ein Schild, »Sorry, we are full«. Einer der Leute des Refugios schlägt mir die Herberge Jesús y María vor, die haben bestimmt noch Platz. Die zweite links, die erste wieder rechts und dann sei ich da. Ich bete innerlich, dass noch was frei ist, ich kann einfach nicht mehr.
Und was habe ich Glück, ich bekomme eins von nur noch fünf freien Betten bei Jesus und Maria! Ich darf auch zwei Nächte bleiben, muß allerdings morgen früh auschecken und kann dann um zwölf Uhr wiederkommen, wenn die Herberge wieder öffnet.

Frankentor Pamplona

Jesús y María ist eine städtische Herberge. Das Gebäude wurde 1782 als Kirche und Priesterschule erbaut. Heute stehen auf zwei Etagen hundert Stockbetten nebeneinander in abgeteilten Parzellen.
Ich darf heute in die erste Etage, und natürlich bekomme ich auch schon wieder das obere Bett, gerade mal zehn Zentimeter neben einem anderen. Da bin ich ja mal auf meinen unmittelbaren Bettnachbarn gespannt. Über mir ist die Gewölbedecke mindestens zehn Meter hoch. Jedes kleinste Geräusch hallt, wie es in einer Kirche nun mal so ist. Ein verrückter Ort zum Schlafen.

Die Dusche ist eine weitere Herausforderung. Es ist schwer mich zu sortieren, wenn nur ein Haken in der Kabine ist, an dem ich meine Kleidung, mein Waschzeug, mein Handtuch und die frischen Sachen aufhängen soll. Und da ich heute sowieso nicht mehr klar im Kopf bin, geschieht es, daß ich meinen BH vergesse auszuziehen und obendrein, und das verstehe ich bis heute nicht, meine Mütze abzusetzen! Wie konnte ich mit aufgesetzter Mütze mein T-Shirt überhaupt ausziehen? Ich muß sie aus Mangel an Händen, während ich versucht habe mich zu organisieren, danach wieder aufgesetzt haben. Und jetzt stehe ich da in der Dusche mit BH an und Mütze auf, dicht an die Wand gepresst, weil der Wasserstrahl nicht weiter reicht.
Schon mal klamme Klamotten angezogen, wenn man selber noch halb naß ist?

Ich bin heute nicht gut drauf, als ich durch die Stadt gehe. Ich möchte gerne irgendwo ein Bierchen trinken und mich freuen, daß ich hier bin. Hunger habe ich auch, aber ich kann diese Bocadillos und Tortillas und Tapas, oder Pintxos, wie sie hier in der Gegend heißen, nicht mehr sehen. Ich möchte was zum Essen, das mir schmeckt und das mich satt macht.
Mein Telefon klingelt, Aki und Andrew rufen an. Sie haben sich unterwegs getroffen und sind jetzt sechzehn Kilometer hinter mir in Larisson. Beide wollen aber morgen mehr als nur sechzehn Kilometer laufen und werden deshalb nicht in Pamplona bleiben. Schade. Wie gerne hätte ich die beiden jetzt bei mir. Ich fühle mich gerade etwas einsam.

Schließlich gehe ich zu Burger King. Ich kaufe mir einen Whopper und Pommes, denn das ist das einzige, das ich runter kriege. Ich glaube, daß es mir danach besser geht, dem ist aber nicht so. Mir tut alles so weh. Durch meinen gezerrten Musculus gluteus maximus, ich nenne ihn mal ganz deutlich »Arsch«, und die dadurch entstandene Schonhaltung beim Wandern, habe ich jetzt auch noch Anzeichen von Blasen an den Füßen. Und wo ich meine Füße gerade erwähne, möchte ich nicht vergessen zu bemerken, dass sie geschwollen und äußerst schmerzhaft sind, und das betrifft gleichermaßen meine Waden und Schultern. So!

Ich humpele zurück zur Herberge und lege mich aufs Bett. Aber erst mal raufkommen vor lachen. Den Schmerz mal beiseite, jedes Mal wenn ich hoch klettere, kippt das Bett leicht nach vorne und verrutscht dabei. Ich muss aber immer mal wieder runter, denn ich hab hier oben ja gar keine Vorrichtung zum Ablegen von Sachen. Mein Rucksack liegt unter dem unteren Bett auf dem Boden. Einmal geht das bestimmt schief und ich schmeiße das komplette Stockbett um.

Um zehn Uhr abends ist Einschluss bei Jesus y Maria. Wer bis dahin nicht zurück ist, muß draußen schlafen.
Um kurz vor zehn kommt dann mein Bettnachbar, also der, der heute Nacht zehn Zentimeter von mir entfernt schlafen wird: Ein ekeliger italienischer Mann um die fünfzig mit einer tief grollenden Stimme. Er stinkt bestialisch nach Zigaretten, Alkohol und nach allem. Dann furzt er und lacht ganz fies mit seinen drei Freunden, die nicht weniger unangenehm und laut sind. Ich bin schockiert. So sind doch keine Pilger, oder? Ich stelle mich schlafend um nicht reagieren zu müssen.
Die Person unter mit bekomme ich gar nicht zu Gesicht. Ich merke nur, daß da jemand liegt, weil mit jeder seiner Bewegungen das Bett höllisch wackelt. Ich glaube, das hier ist gerade wirklich eine grenzwertige Erfahrung.

Strecke: 24 km / Schritte: 38631

Ich freue mich über ein paar Worte