Nájera – Santo Domingo de la Calzada

Tag 12, 19. Juni 2023

Außer zwei Koreanerinnen ist niemand sonst in diesem Schlafsaal, so dass ich mich in Ruhe fertig machen kann, als die beiden in der Früh aufbrechen. Ich habe keine Eile heute morgen, denn ich muss warten, bis die Läden und das Postamt aufmachen.

In der Nähe der Herberge finde ich ein kleines Café und setze mich an einen Tisch ans Fenster. Da kommt der Wirt und sagt, ich dürfe da nicht sitzen, weil der Tisch für vier Personen sei. Dabei ist das Lokal total leer! Es sind auch noch mehrere Vierertische da, einer steht voll mit dreckigem Geschirr und Essensresten. Aber Hauptsache ich blockiere keinen Vierertisch. Ich bin sauer. Schließlich setze mich an den Einzeltisch daneben, drehe meinen Stuhl aber so zum Fenster, dass ich trotzdem irgendwie an dem Vierertisch sitze, nur, dass mein Frühstück dann eben hinter mir steht. Da hat er dann nichts mehr gesagt.

In einem Schaufenster eines Schuhgeschäfts sehe ich die perfekten Sandalen. Wie eine arme Obdachlose stehe ich mit meinem geflickten Schuhwerk davor und himmele sie an. Weil ich aber noch eine Weile warten muss bis der Laden aufmacht, gehe ich zunächst zum Postamt. Hier gibt es mehrere Packboxen in verschiedenen Größen. Als ich da so rumfummele, weil ich nicht sicher bin welchen ich nehmen soll, raunzt die Postbeamtin mich an. Verstehe natürlich kein Wort, aber wahrscheinlich will sie nicht, dass ich mit meinen schmutzigen Pilgerfingern alle Kartons angrabble.
Ich entscheide mich für eine große Box und bezahle sie zunächst, packe dann meine Schuhe, den Schlafsack und meinen Titantopf hinein und stelle mich wieder in die Schlange. Die Postbeamtin spricht kein Wort Englisch, stellt mir aber tausend Fragen. Da hilft nur eins, nämlich meine Übersetzungs-App. Ich öffne die App und halte der Beamtin mein Handy hin als Aufforderung ihre Fragen dort einzutippen. Als ich das tue, erstarrt sie und schaut völlig besorgt zu ihrer Mitarbeiterin am Nebenschalter. Diese sieht jetzt auch auf mein Handy und guckt regelrecht hilflos erst mich an, sagt was, guckt dann wieder ihre Kollegin an, dann wieder mich und fasst sich immerzu an die Stirn. 
Was ist passiert?
Nun, es dauert einen Moment bis ich begreife. Diese Übersetzungs-App nämlich zeigt unter dem Eingabefeld alle bisherigen Eingaben, und da steht in fetten Druckbuchstaben: »Disculpe, ¿puede ayudarme por favor? Tengo diarrea severa y fiebre …« Zu Deutsch: »Entschuldigung, können sie mir bitte helfen? Ich habe starken Durchfall und Fieber …«
Ach herrjemine, ich kann gar nicht so schnell mit der Hand wedeln wie ich will und sage fortlaufend »No, no, no, I’m good, I‘m good! Muy bien…« Im Erdboden möchte ich versinken.
Mein Aufenthalt auf der Post dauert dann fast eine ganze Stunde, letztendlich habe ich für fast neunundfünfzig Euro mein Paket verschickt. Das ist ja dann wohl versichert möchte ich annehmen.

Wie leicht mein Rucksack ist, als ich mich auf den Weg zum Schuhgeschäft mache, ich spüre ihn fast gar nicht mehr. Es ist unglaublich, wie leichtfüßig ich jetzt gehen kann!
Leider gibt es die Sandalen die ich möchte nicht in meiner Größe. Glücklicherweise besitzt der Verkäufer noch zwei andere Geschäfte in der Nähe und hat mir versprochen, mir von dort die passende Größe zu besorgen, nachdem er die drei anderen Pilger, die jetzt auch mit Fußweh im Geschäft stehen, bedient hat. Einer von ihnen ist ein junger Engländer namens Roland, genannt Roly, aus Oxford. Ein hübscher Kerl von einundzwanzig Jahren mit kurzem dunklen lockigen Haar, eher ruhig und sehr höflich. Ich habe Roly das erste Mal in der Herberge in Los Arcos gesehen, da saß er zusammen mit Flo und ein paar anderen Leuten am Tisch im Garten. Hinterher sind wir uns noch ein paar Mal über den Weg gelaufen. Hier wird er jetzt für meinen Sohn gehalten, wohl wegen der Locken und weil ich ihm bei der Wahl seiner Schuhe so behilflich bin. Er hat sich schließlich die gleichen Sandalen ausgesucht wie ich. Rolys Schuhgröße ist verfügbar, zufrieden geht er im Laden auf und ab.
Ist schon irgendwie ulkig, wie viele Pilger sich entweder in Schuhgeschäften oder in Apotheken wiedersehen.

Als nächstes sitze ich draußen auf den Stufen vor dem Laden und warte, daß der Verkäufer mit meinen neuen Schuhen wieder kommt. Wie versprochen ist er etwa zwanzig Minuten später zurück, und schon bald schmücken meine Füße, neben den alten Wollsocken, brandneue Sportsandalen. Meine ollen Latschen werden unter mitleidigen Blicken entgegen genommen und noch vor Ort entsorgt.

Ich sehe weit und breit keine anderen Pilger, als ich durch die Weinrebenlandschaft wandere. Es ist einfach schon zu spät am Tag, die meisten sind längst weg und wahrscheinlich sogar schon in Santo Domingo angekommen. Aber ich bin schnell, es fühlt sich fast so an, als würde ich ganz ohne Rucksack unterwegs sein, und nichts tut mir weh!

Es geht unglaublich lange und viel geradeaus. Im unten verlinkten Video sieht man das noch mal so richtig gut.
So in etwa stelle ich mir die gefürchtete Meseta vor, die mich hinter der Stadt Burgos erwarten wird.

In der Gemeinde Azofra treffe ich das amerikanische Pärchen wieder, das auch im Schuhladen war und von denen einer sich auch Sandalen gekauft hat. Sie sitzen an einem Tisch und essen ihr Bocadillo. Als sie mich sehen, sagen sie zu mir, dass ich wie ausgewechselt sei. Noch vor ein paar Tagen so erschöpft und voller Schmerzen, und jetzt so fit und guter Dinge. Ich lache verlegen, denn mir ist gar nicht bewußt, dass wir uns schon mal begegnet sind. Ich muss ja ein erbärmliches Bild abgegeben haben, dass sie sich an mich erinnern.
»Das liegt nur an den Sandalen!« rufe ich im Vorbeigehen zu ihnen rüber. Stimmt ja auch irgendwie.

Gerne würde ich noch plaudern, aber noch lieber möchte ich dem Regen entweichen, der auf dem Vormarsch ist und ziehe deshalb weiter. Schnell noch rein in den Mini Supermarkt für etwas Nahrung, und dann nichts wie weg.
Übrigens sieht die Nahrung so aus: Apfel, Chips, Twix, Aquarius. Letzteres ist ein hier sehr beliebtes isotonisches Getränk und zu einem meiner Lieblingsgetränke geworden. Das gibt es mit Orangen- und mit Zitronengeschmack und liefert wertvolle Elektrolyte und Mineralien. Zitrone ist mein Favorit. Wenn es so richtig heiß ist, ist so ein gekühltes Aquarius das beste auf der Welt.

Ich biege in das nächste Weinbaugebiet ab. Über mir kreisen Störche, links von mir quaken Frösche, alles ist sehr idyllisch. Da gelange ich an eine Stelle auf dem Weg, die so matschig ist, dass ich nicht weiter komme. Die Kornfelder daneben stehen auch unter Wasser, und Äste oder größere Steine zum Tritte legen sind hier keine.
Soll ich jetzt barfuß da durch? Oder wenigstens die Socken ausziehen? Oder Schuhe aus und nur die Socken anlassen? Das Problem ist, ich habe nicht genug Wasser, um meine Füße hinterher wieder sauber zu machen, und ich kann ja schlecht die Socken über meine Schlammfüße anziehen hinterher. Und nur in Socken da durch will ich auch nicht, falls da was Spitzes im Schlamm ist, in das ich rein treten könnte. Also lasse ich alles an und latsche einfach durch. Meine schönen neuen Sandalen sehen danach alles andere als neu aus, und überhaupt weiß ich nicht, wie ich den dunkelroten Schlamm je wieder aus meinen Socken heraus kriege. Wie haben alle anderen das wohl gemacht? Ob ab hier jetzt jeder Schlammfüße hat?

Die Wassergräben links und rechts vom Weg sind größtenteils ausgetrocknet, und wenn doch Wasser drin ist, dann ist es braun. Erst fünf Kilometer weiter, kurz nach einem langen Anstieg vor dem Ort Cirueña, komme ich an einen Brunnen auf einer Art Mini-Parkanlage in einer Ecke eines Feldes vorbei. Hier stehen auch ein paar Tische und Liegestühle aus Stein unter schattigen Pinien. An dem Baum hinter dem Brunnen pappt ein Schild, auf dem steht, dass das Wasser nur zum Trinken sei und nicht zum Waschen von Schuhen oder Fahrradreifen, da der Schlamm den Abfluss verstopft und dadurch die Wiese überflutet. Ich fülle daraufhin mehrmals meine Wasserflasche und säubere an einer anderen Stelle meine Socken und Schuhe so gut es geht. Danach hänge ich sie in einen Baum, mache Mittagspause auf einem dieser Stühle in der Sonne und esse meinen Apfel und meine Chips. Es weht ein extrem heftiger Wind, trotzdem sind meine Socken nach etwa einer Stunde immer noch naß, als ich sie wieder anziehe.
Im Nachhinein frage ich mich, warum ich nicht meine faltbare Schüssel benutzt habe, wofür hab ich sie denn? Ich habe einfach nicht daran gedacht.

Ich komme durch die Neubausiedlung von Cirueña und kann gar nicht fassen was ich hier sehe. Der Ort ist wie ausgestorben, ein Labyrinth leerstehender Wohnblocks, und überall sind die Rollläden runter. Kein Mensch ist auf den Straßen, kein Auto weit und breit. Neue Spielplätze, Parkanlagen und eine riesige Golfanlage sind total unbenutzt. Überall stehen Schilder »Zum Verkauf« auf mit Unkraut überwuchertem Land. Eine reine Geis­terstadt, das Resultat von Bauspekulationen in Verbindung mit der Finanzkrise von 2008. Ich komme mir vor wie der Typ in dem Film 28 days later, der aus einem Koma erwacht und dann durch die von Zombies ausgerottete Stadt irrt. Unheimlich.

Trockenen, wenn auch schmutzigen Fußes erreiche ich am späten Nachmittag Santo Domingo de la Calzada. Die Kleinstadt ist unter anderem durch eine eng mit dem Jakobsweg verbundene Legende bekannt, und zwar dem sogenannten Hühnerwunder, und die geht so:

Das Hühnerwunder von Santo Domingo de la Calzada

Zur Hochzeit der Wallfahrt nach Santiago de Compostela soll eine Pilgerfamilie aus Xanten nach Santo Domingo de la Calzada gekommen sein. Sie übernachteten in einem Wirtshaus.
Die Wirtstochter fand den Sohn der Familie sehr attraktiv, der – fromm und keusch – ihr Angebot aber zurückwies. Die Zuneigung der Wirtstochter wandelte sich in bösen Zorn, sie sann auf Rache und versteckte einen Silberbecher in seinem Gepäck.
Der Wirt bemerkte am Folgetag den Verlust und schickte die Stadtbüttel aus, die auch schnell fanden, was sie suchten. Der junge Mann wurde nach kurzem Prozess aufgehängt und die Eltern zogen traurigen Herzens weiter nach Santiago.
Auf dem Rückweg kamen sie wieder an der Richtstatt vorbei, wo sie ihr Sohn ansprach, dass er gar nicht tot sei, weil ihn (Version 1) Santiago bzw. (Version 2) Santo Domingo gehalten habe. Die Eltern liefen daraufhin zum Richter, der vor einem Teller gebratener Hühner saß, und berichteten das Vorgefallene. Der Richter antwortete, dass ihr Sohn so tot sei wie die beiden Hühner vor ihm, worauf diese sich erhoben und davonflatterten. Nun wurde der Sohn ab- und die Wirtstochter aufgehängt, die Familie zog weiter nach Hause.

(Quelle: Wikipedia)


In einem Sportgeschäft möchte ich mir einen leichten Hüttenschlafsack kaufen, denn ich habe ja jetzt nichts mehr zum Zudecken. Leider gibt es aber nichts außer einem überteuerten dünnen Baumwollsack. Aber es nützt ja nichts, irgendeine Decke für nachts brauche ich ja. Das Teil wiegt immerhin vierhundert Gramm weniger als mein Schlafsack, also kaufe ich das gute Stück und suche mir eine Herberge. Solange das Wetter so instabil ist, werde ich mein Zelt nicht aufbauen. 

Die Casa de la Cofradía del Santo verfügt über einhundertdreißig Betten in verschiedenen Schlafsälen, es gibt sogar ein Zimmer nur für Schnarcher! Ich bekomme ein schönes unteres Bett in der hintersten Ecke des Raumes. Es ist sauber und hell, und bisher sind nur zwei weitere Betten belegt. Eines davon gehört Angela, einer Frau in meinem Alter. Wir unterhalten uns eine ganze Weile auf Englisch, bis wir merken, dass wir beide Deutsche sind. Angela wohnt auch in England, genauer gesagt in Devon. Sie ist bereits durch ganz Frankreich gelaufen und dementsprechend lange unterwegs. 
Abends treffe ich dann Julia, Flo und ‘meinen Sohn’ Roly, und wir verbringen einen netten Abend zusammen in einem Außenrestaurant an der Straße. Roly ist übrigens mit seinen neuen Sandalen dem Matsch gut davon gekommen, indem er einfach weiträumig herum gelaufen ist. Aber das ist wieder typisch für mich, bloß jeglichen Umständen aus dem Weg gehen. Stattdessen Augen zu und durch.

Um zehn Uhr ist Einschluss, wie überall. Das Licht geht dann auch um Punkt zehn aus, und der Herbergsvater dreht noch mal seine Runde. Er lässt mich am Tisch sitzen, wahrscheinlich weil er merkt, dass ich sehr, sehr leise mit David telefoniere. Als ich dann in meinen Schlafsaal gehe, quietscht die Tür theatralisch laut, und ich glaube, ich habe alle im Raum wieder geweckt.
Dann startet auf einmal ein heftiges Gewitter. Ein Blitz folgt dem andern und es regnet in Strömen. Ich komme gar nicht in den Schlaf, und auch Angela wälzt sich hin und her. Die Vorstellung jetzt im Zelt zu schlafen macht mir Gänsehaut.

In der Kathedrale gibt es sogar einen Hühnerstall!

Strecke: 22,8 km / Schritte: 39763

Ich freue mich über ein paar Worte